Religion und Schule

Die meisten Menschen in Österreich sind religiös[1]. Der Großteil von ihnen gehört darüber hinaus einer staatlich anerkannten Religionsgesellschaft an. Was „Religion“ für jede und jeden einzelnen von ihnen bedeutet, ist freilich damit noch nicht geklärt. Darüber hinaus kann auch nicht geklärt werden, wie viele Menschen auf unserer Welt auf die eine oder andere Art und Weise religiös sind. Wenn ich davon spreche, dass es die meisten sind, bedeutet dies auch, nicht alle.

Wohl auch deshalb ist im Zielparagrafen für die österreichische Schule davon die Rede, dass es Aufgabe der Schule und damit der Öffentlichkeit sei, die Schüler in religiösen – und sittlichen bzw. ethischen – Fragen zu bilden.[2] Für jene, die sich als religiös bezeichnen, erwachsen aus dieser „Bindung“ („religion“) handlungsleitende Orientierungen, Werte. Religion ohne Ethik zu denken, greift daher zu kurz. Religion ist nie nur etwas, dass die Beziehung zu einem Transzendenten beschreibt. Ganz einfach deswegen, weil nicht in allen Religionen mit Gott gerechnet wird. Wenn also jemand anderen über seine Religion erzählt, würde es dem Phänomen „Religion“ nicht entsprechen, wenn die sich daraus ergebenden ethischen Implikationen nicht behandelt würden. Meines Erachtens wird zu wenig oft bedacht: Woraus schöpft jede „Ethik“ ihre Werte, ihre Normen, ihre handlungsleitenden Imperative? Dazu zu stehen, woraus sich „meine Ethik“ nährt, ist daher der Transparenz geschuldet. Denn: Mein Standpunkt bedingt den Blickwinkel, unter dem ich alles betrachte. So gesehen kann es nicht „Ethik pur“ geben. Ethische Handlungsweisen erwachsen nicht aus sich selbst, sondern leiten sich von Werten ab, die sich aufgrund einer bestimmten Sichtweise der Welt und ihrer Ordnung ergeben[3].

Jede Person, die Religion unterrichtet, ist daher nicht nur eine, die „über“ etwas spricht, sondern eine, die ihre Herkunft und damit auch ihre Perspektiven, von denen her und auf die hin sie sich selbst versteht, offenlegt, transparent macht. Sie ist nicht distanziert, sondern stellt klar, dass ihre Weltanschauung im wahrsten Sinn des Wortes von einem bestimmten Standpunkt aus erfolgt. Alle, die Ethik unterrichten, sind daher eigentlich aufgefordert, ihre Grundlagen offenzulegen, die ihre Standpunkte bestimmen.[4] Denn: im Dienst an der Bildung Jugendlicher bringen sich eben Menschen mit bestimmten Weltbildern, Blickwinkeln, eben mit ihrer eigenen Geschichte ein. Dies nicht so zu sehen, würde auch den Dienst der Erziehungsberechtigten, der im Übrigen auch nicht wertlos, orientierungslos, Ethik-los von statten geht, nicht ernst nehmen. Schulen und Bildungseinrichtungen sind nicht die ersten „Erziehungsanstalten“ und stehen daher von sich aus immer in der Pflicht, deutlich zu machen, dass sie „familien-ergänzend“ wirken.

So betrachtet muss eigentlich gesagt werden: „Ethik“ wird schon unterrichtet, aber eben nicht für jene, die sich keiner gesetzlich anerkannten Religionsgesellschaft zugehörig wissen. Natürlich kann eingewendet werden, dass in einer pluralen Gesellschaft, in der wir uns zweifellos befinden, die Diversität an Überzeugungen, an Religionsbekenntnissen usw. nicht von vorneherein zum Miteinander führt. Zur Kenntnis zu nehmen ist, dass jeder Mensch seinen ganz persönlichen Weg zu finden und zu gehen hat. Erst die Begegnung mit einem Du lässt mich zum Ich werden. Dies bedingt, dass eine Gemeinschaft von Menschen, dass eine Gesellschaft nur dann von gemeinsamen Werten geprägt sein kann, wenn sie zur Kenntnis nimmt, dass sie sich selbst nicht alles geben kann, sondern sich diese aus Vorgegebenem ableitet.[5] Nur dann also, wenn die Verschiedenheit ernst genommen wird, kann ein Miteinander gelingen: Liebe kann nur zwischen Verschiedenen und Verschiedenem gelebt werden, alles andere wäre ein Einheitsbrei und führt wohl auf kurz oder lang weg von einem aufgeklärten Menschen- und Gesellschaftsverständnis. Natürlich ist und bleibt es eine Herausforderung jedes und jeder einzelnen, aller Religionen, der Gesellschaften und damit auch des Staates, die Spannung zwischen persönlichem Standpunkt, persönlicher Religion, persönlichen ethischen Haltungen und den Werten, die einen freien Rechtsstaat leben lassen, auszugestalten. Dies ist wohl mit ein Grund für Schule. Es ist daher höchst an der Zeit, dass jene, die sich keiner Religionsgesellschaft zugehörig wissen, auch in der Bildungslandschaft unserer Heimat vermittelt erhalten, was uns als Gesellschaft zusammenhält. Allen anderen wird dies ohnedies über den, gerade auch aus diesem Grund durch den Staat kontrollierten konfessionellen Religionsunterricht, vermittelt.[6] Dass sich in Österreich mehr als 20.000 junge Menschen, die sich zu keiner Religion bekennen, zu einem konfessionellen Religionsunterricht anmelden, macht darüber hinaus deutlich, wie wichtig vielen die ethische Orientierung aus einem transparent gemachten Rahmen, eben einer Religion, ist.

Verfallen wir daher nicht dem Irrtum, das Phänomen Religion, dass die meisten Menschen nach wie vor zumindest bewegt, als zu wenig bedeutsam zu beachten[7]. Und: Verfallen wir nicht dem Irrtum, Religion als Gesellschafts-spaltend zu sehen bzw. Religionslosigkeit als handlungsleitende Maxime zu postulieren, weil dies erst recht dem Menschen nicht entspricht.[8]

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[1] Dies werden wohl auch die in Kürze erscheinenden Ergebnisse der Langzeitstudie Paul M. Zulehners über den Glauben im Leben der Österreicher zeigen: Wandlung: Religionen und Kirchen inmitten kultureller Transformation. Ergebnisse der Langzeitstudie Religion im Leben der Österreicher*innen 1970-2020, Ostfildern 2020.
Im Übrigen verweist Gisbert Greshake in seinem neuen Buch „Kirche wohin?“ im Kapitel über die Säkularisierung auf eine weltweite Studie: „Über 80 Prozent der Weltbevölkerung fühlen sich einer Religion zugehörig. Tendenz steigend. Rund 91 Prozent bringen religiösen Einrichtungen großes Vertrauen entgegen.“ (S. 65).

[2] §2,1 des österreichischen Schulorganisationsgesetzes lautet: “ Die österreichische Schule hat die Aufgabe, an der Entwicklung der Anlagen der Jugend nach den sittlichen, religiösen und sozialen Werten sowie nach den Werten des Wahren, Guten und Schönen durch einen ihrer Entwicklungsstufe und ihrem Bildungsweg entsprechenden Unterricht mitzuwirken.“ (https://www.ris.bka.gv.at/NormDokument.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10009265&FassungVom=2020-03-02&Artikel=&Paragraf=2&Anlage=&Uebergangsrecht= abgerufen am 2.3.2020)

[3] Es ist daher für mich auch mehr als fragwürdig, zu meinen, dass es „objektive“ Ethik gäbe, die sich etwa an den Menschenrechten orientieren. Dass diese eigentlich nur auf dem Hintergrund biblischer Botschaft von der Gleichheit aller Menschen denkbar sind wird dabei allzu schnell vergessen, da ja auch oft ausgeblendet wird, dass etwa genau deswegen sich asiatische Kulturen mit der gleichen Würde aller Menschen „schwertun“.

[4] Übrigens: auch in anderen Fächern wäre es meines Erachtens gut und sinnvoll, wenn Lehrende ihre persönlichen Blickwinkel, aus denen heraus sie so und nicht anders lehren, offenlegen würden.

[5] Erzbischof Franz Lackner hat in seinem Grußwort zur „pädagogischen Werktagung“ am 10. Juli 2019 unter anderem gesagt, „dass Religionen – so sie ernsthaft gelebt und praktiziert werden – unweigerlich in einen ethischen Imperativ münden: Ethik ist von religio nicht trennbar. Die Endlichkeit und Vorläufigkeit unseres menschlichen Handelns braucht eine Rückbindung an eine letzte Instanz, die birgt und bürgt. Das darf man dem Menschen nicht nehmen.“
Daher sei hier auch kurz darauf verwiesen, dass – entgegen der Debatte, die öffentlich meist geführt wird, Religion gerade nicht „gegen“ Ethik ausgespielt werden kann und daher auch schon die Bezeichnung des Unterrichtsfaches „Ethik“ alles andere als optimal ist, ist doch Ethik als Teil der Philosophie anzusehen und drängt zu einer Ent-scheidung.
Vgl. hierzu auch das sogenannte „Böckenförde-Diktum“: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“ (Ernst Wolfgang Böckenförde: Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation. In: Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte [= Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft. Nr. 914], Frankfurt 1991, S. 92–114, hier: 112) – zitiert nach: https://de.wikipedia.org/wiki/B%C3%B6ckenf%C3%B6rde-Diktum abgerufen am 2.3.2020.

[6] Im Übrigen ist Religionsunterricht der einzige Pflichtgegenstand, von dem man sich abmelden kann.
Auf der Seite https://www.religionsunterricht.at/themen/konfessioneller-ru sind weitere Argumente für den Religionsunterricht zu finden.

[7] Vgl. etwa den früheren deutschen Bundesinnenminister Thomas de Maizière bei einem Zukunftskongress Migration und Integration im September 2016 in Berlin (https://www.welt.de/politik/deutschland/article158267521/Wir-haben-die-Bedeutung-von-Religion-unterschaetzt.html abgerufen am 2.3.2020). Der Wortlaut der Ansprache des damaligen Bundesinnenministers kann hier abgerufen werden: https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/reden/DE/2016/09/2-zukunftskongress-migration-integration.html.

[8] Vgl. hierzu auch den Kommentar von Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Weirer: https://theol.uni-graz.at/de/neuigkeiten/detail/article/kommentar-zur-aktuellen-debatte-zum-ethik-religionsunterricht abgerufen am 2.3.2020.