Weckruf für Amazonien und die Weltkirche: Querida Amazonia

Ich gestehe: In den letzten Tagen dachte ich immer wieder über die in unseren Breiten üblichen Erwartungen zum nachsynodalen apostolischen Schreiben des Papstes zur Amazonien-Synode nach. „Was wird er wohl sagen zu den bei uns diskutierten Fragen?“ Während meiner geistlichen Einkehrtage mit beinahe 150 Bischöfen aus der ganzen Welt kam ich an einem Abend gegenüber einem Bischof aus Amazonien zu sitzen und fragte, was er sich erwarte? – „Nun: der Papst möge uns Mut machen“, war die Antwort. Nichts an Forderungen in irgendeine gewisse Richtung. Ich fühlte mich erinnert an verschiedene Wortmeldungen, die ich im Umfeld der Synode im Herbst vergangenen Jahres von Teilnehmern gehört hatte: Was berichtet wurde, sei anders gewesen als das, was wirklich besprochen wurde. Und mir kam erneut in Erinnerung, dass von den 120 Punkten, die dem Papst am Ende der Synode als „Ergebnis“ für seine Überlegungen mitgegeben wurden[1], gerade mal zwei – wenn ich es recht in Erinnerung habe – von den Dingen handelten, die bei uns zum Thema gemacht wurden. Ich wurde innerlich zurechtgerückt.

Als ich dann zunächst die englische Version des „Liebesbriefes an Amazonien“ gelesen habe – so jedenfalls nennt einer der Kommentatoren die Exhortatio „Querida Amazonia“ (QA)[2] – war ich gewissermaßen „vorbereitet“ auf die Überraschungen, für die unser Papst gut ist. Und auf die Reaktionen, die die Rezeption der „Ermahnung“ in unseren Breiten haben würde: Es ist interessant, wie viele Worte um Begriffe gemacht werden, die nicht vorkommen – kein Wort vom „Zölibat“, kein Wort von „viri probati“.[3] Freilich waren die Erwartungen hochgeschraubt – sowohl von denen, die ein Wort zu dem hören wollten, was sie mit „Reform“ meinen, wie auch von jenen, die – üblicherweise mit dem Pickerl „konservativ“ versehen – auf keinen Fall etwas von geänderten Weihezulassungskriterien wissen wollen und die eine Kirchenspaltung heraufdämmern sehen, wenn sich nur irgendwas ändern würde. Das Ergebnis: die jeweiligen Seiten entsprechen in ihren Deutungen und ersten Reaktionen vielfach undifferenziert dem zu erwartenden Schema, dem gerade der Papst nicht entsprechen will –  er ist kein „Schwarz-Weiß-Maler“. Damit aber kommt mir zugleich die Frage: Wer von den Kommentatoren hat wirklich gehört – also das getan, was sich der Papst stets von allen in der Aula bei den Synoden wünscht – und gelesen und ist nicht bloß mit einseitiger Sicht das mögliche Ergebnis vorwegnehmend an das Dokument herangegangen? Und wer von den Kommentatoren war und ist bereit, auch die jeweils andere Seite wirklich zu hören, sich also – paulinisch gesprochen – „eins zu machen“ (vgl. 1Kor 9,22). Alles andere wäre zu plump, den Anliegen des Papstes und auch den Bewohnern Amazoniens nicht entsprechend.

Der Papst hat mich, so vorbereitet, nicht enttäuscht. Er hat einfach geschrieben, dass er das Schlussdokument annehme und mit einigen Gedanken ergänzen wolle, ohne es zu schwächen. Und dass er das Dokument zu Amazonien als Papst der ganzen Welt(kirche) vorlegen wolle. Also hat Amazonien auch was mit mir zu tun. Er hat die vier Aspekte, die in der Synode zu einem Umdenken aufgerufen haben, als Visionen und Träume neu benannt. So fühle ich mich unwillkürlich an Martin Luther King erinnert: „Ich träume von einem Amazonien, das für die Rechte der Ärmsten, der ursprünglichen (autochthonen) Völker, der Geringsten kämpft, wo ihre Stimme gehört und ihre Würde gefördert wird. Ich träume von einem Amazonien, das seinen charakteristischen kulturellen Reichtum bewahrt, wo auf so unterschiedliche Weise die Schönheit der Menschheit erstrahlt. Ich träume von einem Amazonien, das die überwältigende Schönheit der Natur, die sein Schmuck ist, eifersüchtig hütet, das überbordende Leben, das seine Flüsse und Wälder erfüllt. Ich träume von christlichen Gemeinschaften, die in Amazonien sich dermaßen einzusetzen und Fleisch und Blut anzunehmen vermögen, dass sie der Kirche neue Gesichter mit amazonischen Zügen schenken.“[4]

Und weil er dies allen Menschen guten Willens schreibt, gilt für mich: Was bedeuten diese vier Träume in Österreich und wie und wodurch sind sie umzusetzen, in der Steiermark, in unseren kirchlichen Einrichtungen, in den Pfarren usw.? Wo also hören wir die Stimme der Armen und Bedrängten wirklich?[5] Was heißt es wirklich, „unsere“ Kultur/en, das also, was wir einfach „Heimat“ nennen, in seiner Vielfalt neu zu entdecken und zueinander und miteinander ins Spiel zu bringen?[6] Wo nehmen wir uns wirklich und ernsthaft vor, das, was uns in der Schöpfung in die Hand gegeben ist, zu bewahren und zu behüten?[7] Wo nehmen wir Kirche in ihren vielfältigen Formen wirklich ernst?[8] Dieses Leben ist eben mehr als bloß die Frage nach der Leitung, die bei uns immer wieder und sofort, mitunter sogar als einzige Frage kommt[9], gleichsam als ob dann „alles geritzt“ wäre, als ob es hier nur eine Lösung gäbe.

Und es gilt, ernstzumachen damit, dass Amazonien zu „mir“ gehört, als Teil dieses einen Planeten, auf dem wir leben. Wenn wir wirklich ernst machen damit, dass wir als Kirche einen Leib bilden (vgl. die Rede von Paulus), dann leidet eben ein Glied mit dem anderen und dann freut sich auch ein Glied an diesem Leib mit einem anderen (vgl. 1Kor 12,12ff.) – immerhin sind wir auch zur Nächstenliebe herausgerufen in der Art, wie wir uns selbst lieben (vgl. Mt 22,39). Und den Schrei Amazoniens hat uns der Papst eindrücklich in Erinnerung gerufen, damit wir aufwachen – weltweit.

All das eben Gesagte kann und darf so manches nicht überdecken, das – übertragen in unseren Kontext – auch zu sagen ist: Es gilt, mehr und mehr unsere Sendung als Christen hinein in die Welt ernst zu nehmen. Das bedeutet eben mehr als Kirche bewahren und „verwalten“. Wir sind ge- und berufen, die Welt in Seinem Geist zu ändern! Bei den geistlichen Vertiefungstagen der Fokolar-Bewegung wurden mir wieder mal Perspektiven in Erinnerung gebracht – Leben von Kirche ist eben Leben hinein und für die Gesellschaft in all ihren Dimensionen und daher auch weit mehr als das „Bespielen kirchlicher Räume“: Sind wir uns dessen wirklich bewusst? Wenn ich mir selbst etwa in Erinnerung rufe, was denn mit „Kirche“ üblicherweise verbunden wird … Den damit verbundenen Fragen haben wir uns verstärkt zuzuwenden – als Aufgabe aller, nicht nur der Amtsträger.

Ja, es gilt auch das, was wir mit „kirchlichem Amt“ in Verbindung bringen, vertieft auszubuchstabieren – es ist mehr als das, was in den letzten Jahrzehnten bei uns bedacht wird, mehr also als das „geweihte Amt“. Da hat sich manches sehr im Bewusstsein vertieft, was der Papst aufbrechen will. Diese Aufgabe ist ernstzunehmen. Es gilt tatsächlich zu fragen, wie denn das kirchliche Amt mitunter erfahren und gelebt wurde, mitunter auch wird: lebensstützend oder -beengend? Die vielfachen Glaubwürdigkeitskrisen durch Missstände sind sprechende Zeugnisse für die Notwendigkeit der Neubesinnung auf den Ursprung dessen, wofür das geweihte Amt in der Kirche notwendig ist.

Das, was Frauen schmerzlich auch aus der Art und Weise zum Ausdruck bringen, wie darüber in QA geschrieben wird, kann und darf uns nicht egal sein[10]. Hier haben wir alle wirklich hinzuhören – jedenfalls ist da nichts zugesperrt worden, was an Fragen von den Synodenteilnehmern dem Papst in die Hand gelegt wurde.

Wenn uns der Papst die Sendungsperspektive erneut in Erinnerung ruft, dann sollte auch in unseren Breiten nach mittlerweile sieben Jahren seiner Amtszeit diese Fragestellung vertieft ernstgenommen werden. Wir haben in unserer Diözese Graz-Seckau mit unseren Veränderungen die Geleise dafür gelegt, um das, was Evangelisierung heißt, also wie wir uns „hinein“ in diese unsere Welt verstehen, zu vertiefen und zu leben. Das hat Priorität gegenüber all dem, was an Strukturen, die der Verkündigung zu dienen haben, üblicherweise bei uns schnell bedacht wird. Natürlich – und dies höre ich schon auch – wenn etwa Weihezulassungskriterien „eh nicht so bedeutsam seien“, dann müsse man sie doch auch schnell ändern können. Schon – und dennoch: Wenn es zunächst nur darum geht, dann bestünde eben die Gefahr, dass wir zwar Strukturen „neu“ machen, aber eigentlich „nichts geändert“ haben. Bekehrung aber, Umdenken und Träume sind’s, die uns in der Synode und im nachsynodalen Schreiben ans Herz gelegt werden – und das fängt bei mir an.

Schließlich: Dieses päpstliche Schreiben ist eines eigener Art – auch in der Schreibweise, so etwa werden mehrere Dichter zitiert. In diesem geistlichen (!) Kontext ist es wohl auch zu lesen,  will es verstanden werden. Wenn etwa von „Maria“ die Rede ist,  dann gilt es, die spirituelle Lesart ernst zu nehmen. Sie ist jene, die im wahrsten Sinn des Wortes Gott zur Welt gebracht hat. Damit ist die innere Dimension umschrieben,  die uns als Christinnen und Christen in dieser Welt auszeichnet. Unsere Berufung ist es, in unserer Welt mit ihm zu leben,  der lebt,  also gleichsam Ihn, Christus,  fett Welt zu schenken. Das Amt in der Kirche ruft diese innere Dimension des Lebens aus der Taufe in Erinnerung. Es dient demnach der und in der Kirche, in der wir alle mehr und mehr Christus ähnlich werden sollen in der Art und Weise unser Sein zu gestalten. Daher kann in dieser Sprache mit Gig und Recht gesagt werden, dass Maria (also Leben aus dem Glauben) bedeutsamer ist als Petrus (der mit seinem Amt lediglich dem Leben dient).

Mein Vorgänger im bischöflichen Dienst hat immer wieder gemeint: „Verstehen Sie mich nicht zu rasch!“ Diese Einstellung gilt es auch unserem Papst entgegenzubringen, von denen, die enttäuscht sind und jenen, die jubeln, weil sie meinen, dass ohnedies alles beim Alten bleibe[11].

[1] https://www.misereor.de/fileadmin/publikationen/schlussdokument-amazonien-synode.pdf

[2] http://www.vatican.va/content/francesco/de/apost_exhortations/documents/papa-francesco_esortazione-ap_20200202_querida-amazonia.html

[3] Kathpress meldete heute (14.2.2020), dass sich der Papst betroffen zeigte darüber, dass oft sein Lehrschreiben bloß mit dem Blickwinkel der „Zölibatsfrage“ gelesen und kommentiert werde: https://www.kathpress.at/goto/meldung/1856803/us-bischof-papst-betroffen-ueber-reaktionen-auf-neues-schreiben

[4] QA 7.

[5] vgl. unser Zukunftsbild II,3.

[6] In unserem Zukunftsbild sprechen wir etwa davon, dass wir die unterschiedlichsten Begabungen der Menschen fördern und befähigen wollen.

[7] Auch vom nachhaltigen Umgang mit all unseren Ressourcen ist im Zukunftsbild die Rede.

[8] vgl. unser Zukunftsbild u.a. II,4-6.

[9] vgl. etwa Bischof Felix Gmür in einem ersten Interview zu QA: https://www.srf.ch/news/schweiz/bischof-zum-papst-schreiben-die-antworten-muessen-wir-selber-geben

[10] In einer Pressekonferenz, von der Kathpress berichtet, wurde differenziert und beachtenswert von den TeilnehmerInnen darüber berichtet: https://www.kathpress.at/goto/meldung/1856497/scheuer-fuer-papst-nicht-europaeische-fragestellungen-vorrangig

[11] Ehrlich gesagt: Wie von manchen in diversen Internetforen über die Kirche auch angesichts dieses neuen Dokuments hergezogen wird und über Religion insgesamt gespöttelt wird, ist für mich sehr beschämend.