Armut

Auf dem Flug von Delhi nach Kochi gestern – in dieser heute begonnenen Woche besucht unsere steirische Gruppe im Bundesstaat Kerala die Diözese von Matthew Arackel Kanjirapalli – habe ich in einer indischen Zeitung vom „Paradox der indischen Armut“ gelesen. In den vergangenen Tagen haben wir uns im Nordosten – in den Bundesstasten Bihar und Jharkand – durch das, was wir gesehen haben, auch mit dieser Erfahrung konfrontiert gesehen. Und tatsächlich fragten wir uns: wir hören zwar immer und wieder vom aufstrebenden Staat, von Wachstumsraten und Zunahmen am BIP und wie die verschiedenen Indices auch heißen mögen, machen aber auch die Entdeckung, ob das wirklich „bei den Menschen ankommt“. Gleichzeitig: Es habe sich viel in den vergangenen Jahren zum Positiven verändert meinte eine aus unserer Reisegruppe, die sich schon seit längerem mit den Entwicklungen am indischen Subkontinent beschäftigt – und das mit einem rasanten Tempo. Dies kann ich, der ich zum ersten Mal hier bin, nicht sagen, da ich ja keine Vergleichsmöglichkeit habe – ich glaube es einfach und sah mich in Gedanken auf der Fahrt zum Flughafen in Ranchi plötzlich einem Bild in den Straßen von Masan gegenüber, das sich eingeprägt hat: die dortige Kathedrale steht in einer alles andere als „reichen Straße“, aber unmittelbar hinter den einfachsten Läden und Häuschen erheben sich modernste Hochhäuser, die einen Kontrast deutlich machen, der sich – auf gut steirisch gesagt – „g’waschen“ hat. Wieder jemand anderer aus unserer Gruppe hat seine eigenen Erfahrungen aus seiner Kindheit erzählt: hier sei so manches ihm bekannt vorgekommen, er selbst stammt aus einem dem früher so genannten Osteuropa angehörenden Land. –
Es gibt wohl keine Antworten auf die Frage, aber einen Weg zu leben: zu lieben – und dazu ist jede und jeder von uns aufgerufen.

Die Liebe, caritas, wird uns schon deswegen immer abverlangt werden, weil wir, wenn wir von der Einzigartigkeit jedes Menschen sprechen, ernst machen damit, dass wir unterschiedlich sind. Nur weil wir nicht gleich sind, können wir lieben. Und zur Liebe fühle ich mich hier in Indien auf -zigfache Weise herausgefordert. Am Freitag Abend saßen wir mit den Seminaristen des Priesterseminars von Ranchi zusammen – etwa 180 aus ca. 35 Diözesen, fast 95% von ihnen stammen von den „tribals“ ab wie uns der Rektor mitteilte. Sie erzählten uns von ihren „ministries“, die sie unter anderem in den Slums von Ranchi leben: sie lernen mit Kindern, denen der Schulbesuch alles andere als schmackhaft gemacht wird, sie proben mit ihnen Theaterstücke und führen diese auf, sie laden sie immer wieder ein um mit ihnen auf dem Campus des Seminars zu spielen und Freude zu haben, sie musizieren mit ihnen usw. Die Seminaristen sprachen unter anderem davon, dass sie mit dieser Arbeit sich „anders“, wenn nicht gar „intensiver“ – wer kann dies schon bewerten? – auf ihre Berufung vorbereiten, als Priester in dieser Kirche zu wirken. Denn sie machen damit ernst, dass das Reich Gottes nicht erst kommt, sondern in Christus schon mitten in der Welt angebrochen ist. Wir dürfen uns daher „aufgefordert“ wissen, dies wirklich bis in die letzten Phasern unseres Mensch- und Christseins ernst zu nehmen. Ja: Es gilt, in allem, was uns begegnet, damit zu rechnen. Denn – dieses Sprichwort sei hier in Indien bekannt: „Wenn ein Gast kommt, kommt Gott.“ Gut, dass diese jungen Männer hier buchstäblich vor ihrer Haustür auf diese Möglichkeit stoßen, „an die {existentiellen] Peripherien zu gehen“, um von dort aus – um einen Gedanken unseres Papstes aufzugreifen – alles mit einem neuen Blick zu sehen, also auch „unser gemeinsames Haus Erde“ und die Kirche in ihr.

Gerade auf diesem Hintergrund ist es alles andere als „Nebensache“ für Christen, sich zu engagieren und zur Weltverbesserung beizutragen [gerade hier in Indien wird auch deutlich, wie sehr sich das Klima wandelt: nicht selten sind wir in den vergangenen Tagen über große Brücken und beinahe leere Flussbette darunter gefahren, weil hier im Nordosten die Regenzeit alles andere als ausgiebig war] – auch wenn das, was wir in der Welt leisten, nach menschlichem Ermessen die Frage hochkommen lässt: „Was ist das für so viele“? Es ist schlicht Ernstfall des Glaubens, weil es Ernstfall des Lebens und damit der Menschen ist. Wir können nicht anders, als das, was uns möglich ist, zu geben. Mitunter wird dies als nicht dem „Kern des Christseins“ angehörend abgetan. Meines Erachtens ist eine solche Einstellung schlicht und einfach falsch. Mitunter verlangen ja dieselben „Kritiker“, dass sich die Kirche ja nicht auf die Sakristeien zurückziehen soll. Wie sie es also macht: es ist für manche sicher falsch … Da aber immer und überall Menschen glauben, ist Glaube immer auch mit Leben verbunden – schließlich ist ja der Sohn Gottes nicht nur in Synagogen zu finden gewesen, er hat geheilt, er hat zu essen gegeben usw. Mehr noch: „Er, der wie Gott war“, ist einer von uns Menschen geworden, also ein „ganz anderer“ geworden, an die Peripherien gegangen! Dies zu leben ist „politisch“, weil es der „Stadt“ [„polis“ heißt „Stadt“] und damit dem „Ganzen“ dient und alles andere als „partei – politisch“ ist. Letzteres nimmt – wie es der Begriff allein schon deutlich macht [„Partei“ kommt ja von „pars“, also „Teil“] – eben nur einzelne Teil-Aspekte gewissen Interesses in den Blick. Kirche kann und darf nicht schweigen, wenn es darum geht, das Wohl der Menschen im Ganzen in Erinnerung zu rufen – wie dies genau umzusetzen ist in einer Gesellschaft, in der es eben nicht nur Christen gibt, ist den Verantwortungsträgern in unserer Gesellschaft und in den Gemeinwesen auf den verschiedenen Ebenen anvertraut. Sie bieten zwar aus ihrer persönlichen Sicht- und Zugehensweise Lösungen an, diese dann aber eben eigentlich nicht nur mehr für ihr Klientel, ihren Teil also, sondern für das Ganze. In diesem Sinn sind sie dann eben nicht bloß „Parteigänger“. Deswegen irritiert es mich auch schon seit längerem – in so manchen Predigten der vergangenen Jahre habe ich es immer wieder erwähnt – dass etwa von den „Gutmenschen“ geredet wird, dass „Asyl“ diskreditiert wird, dass zu helfen mehr und mehr scheel und als unvernünftig betrachtet wird, dass es scheinbar schick wird, sich auf Kosten anderer zu profilieren, dass es oft eher heißt „ich und meine Interessen“ zuerst – auch auf Gemeinwesen wird dies ja schon angewendet – und damit durch Worte und Taten, virtuell und real, manches aufgerissen wird und nicht verbunden wie in einem Feldlazarett. Wenn ich diesen Begriff eben verwendet habe, dann soll damit auch deutlich werden, dass ich mich selbst und damit auch Vorgänge in der Kirche keineswegs ausnehme. Aber eben: „nur die Liebe zählt“!