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Kirche steht Kopf

In den vergangenen Tagen habe ich das jüngst erschienene Buch von Christian Hennecke gelesen … Ich bin sehr dankbar für das, was er dort schreibt. Hier einige meiner Gedanken dazu:

Christian Hennecke: Kirche steht Kopf. Unterwegs zur nächsten Reformation, Münster: Aschendorff 2016, 222 Seiten, ISBN 978-3402131800

Wer Christian Henneckes Bücher kennt, weiß: hier begegnet – wieder! – jemand, der die Lebensäußerungen von Kirche im Heute nimmt, um sie aus dem Evangelium zu deuten. Diese tagebuchartigen Einträge sind darüber hinaus leicht lesbar, auch für jene die nicht Theologie studiert haben. Ein Grund dafür ist ihre durch und durch mit Erfahrungen gespickte und gesättigte Darstellungsweise. Gerade deswegen sind sie – auch wenn Hennecke in der Übersetzung und damit der „Inkulturation“ verschiedenster weltkirchlicher Erfahrungen auf unsere kirchliche Situation immer wieder vom deutschen Hintergrund spricht – für die Entwicklung der Kirche in Österreich einfach lesbar, die einzelnen Abschnitte der 4 großen Kapitel sind meist in sich geschlossen und selten länger als 6 Seiten.

Hennecke wird nicht müde, die „Reformation“, die in unseren Breiten ansteht, aus dem Zweiten Vatikanischen Konzil her zu begründen und sie als langen Weg zu beschreiben, der unserer „alten kirchlichen Erfahrung“ bevor steht, meinen wir doch nur allzu leicht, dass wir den einen oder anderen Schalter in der Art Kirche zu leben, wie wir sie gewohnt waren, umzulegen hätten, und „das Werkl würde wieder wie geschmiert laufen“. Vielmehr lädt uns der Autor ein, vom üblichen, bei uns weithin verbreiteten Denken, Kirche „von oben“ und damit der Leitung her zu denken, abzukommen und „Kirche auf den Kopf“ zu stellen, sie von der Taufberufung und damit -sendung her anzudenken.

Wer dieses Büchlein liest – und alle sich in Pfarren Engagierende sind „Ziel“ – kann sich des Eindrucks nicht erwehren: da schreibt jemand, dem das Evangelium wichtig ist und ein daraus Menschen in ihrem ganzen Sein erfassendes Leben, einer, der manche bei uns vorhandene Deutungsmuster der Situation heute buchstäblich mit einem anderen Blickwinkel betrachtet und daher Wege zur wirklichen Erneuerung des Selbstverständnisses und den unterschiedlichsten Lebensformen von Kirche aufzeigt. Einfach schön.

versöhnt leben

Bei „Miteinander für Europa“ sprach auch Kardinal Kurt Koch. Von der Homepage habe ich seinen Impuls heruntergeladen.

Miteinander für Europa – Mitarbeiterkongress, 1.7.2106

BEGEGNUNG – VERSÖHNUNG – ZUKUNFT

Der entscheidende Beitrag, den wir Christen für die Zukunft Europas einzubringen haben, besteht darin, dass wir uns untereinander versöhnen und als Versöhnte leben. Der Kongress und morgen die Kundgebung stehen deshalb unter den drei Stichworten: Begegnung – Versöhnung – Zukunft. Das Wort Versöhnung ist dabei in der Mitte zwischen Begegnung und Zukunft verortet. Damit wird signalisiert, dass die elementare Voraussetzung für Versöhnung die Begegnung ist und aus Versöhnung Zukunft entstehen kann. Diese Mitte nimmt die Versöhnung vor allem im christlichen Glauben ein, wie der wunderbare Text im fünften Kapitel des zweiten Briefes, den Paulus an die Gemeinde in Korinth geschrieben hat (5, 18-21), zeigt. Aus ihm möchte ich vor allem drei Perspektiven hervorheben.

1. „Gott war es, der in Christus die Welt mit sich versöhnt hat.“ Mit dieser Aussage führt uns Paulus vor Augen, dass Versöhnung unter uns Menschen und Christen nur möglich ist, wenn wir uns selbst versöhnen lassen. Versöhnung ist in erster Linie eine Gabe, die Gott uns schenkt, und sie kann nur von daher auch zu unserer Aufgabe werden. Damit zeigt uns Gott, wie Versöhnung möglich ist.

An erster Stelle wird deutlich, dass Gott die Initiative zur Versöhnung ergreift. Gott wartet nicht, bis wir Menschen kommen und uns versöhnen. Aller Erfahrung nach müsste Gott da lange warten. Doch Gott geht den Menschen zuerst entgegen und versöhnt sie. Damit zeigt sich, dass Versöhnung dort möglich ist, wo jemand den ersten Schritt wagt, und zwar gerade im Kreislauf der gegenseitigen Aufrüstung, wie er in menschlichen Beziehungen und gemeinschaftlichen Verhältnissen – auch in der Ökumene – immer wieder zu beobachten ist. Da rüstet die eine Seite nach in der Annahme, die andere Seite habe vorgerüstet. Und der Kreislauf der Aufrüstung hört nicht auf, bis einer den Mut hat anzufangen aufzuhören. Damit beginnt Versöhnung, indem auch der andere eingeladen wird, sich auf denselben Weg zu begeben.

Zweitens wird im Versöhnungshandeln Gottes sichtbar, dass Versöhnung keine billige Angelegenheit, sondern harte Arbeit ist. Sie ist nichts weniger als konsequente Feindesliebe Gottes, wie sie am Kreuz Jesu offenbar geworden ist. Gemäss der menschlichen Logik hätte die Grausamkeit des Kreuzestodes Jesu Rache bis zum Letzten bedeuten müssen, damit die Welt wieder in Ordnung wäre. Gott hat aber am Kreuz Jesu aller Rache und Vergeltung ein klares Ende gesetzt. Die einzige „Rache“, die Gott kennt, ist sein kompromissloses Nein zur Vergeltung und seine Liebe bis zum Ende. Auf die menschliche Steigerung des Bösen hat Gott am Kreuz Jesu gerade nicht mit Vergeltungsmechanismen reagiert, sondern mit der Steigerung seiner unendlichen Liebe, die auch die Bereitschaft einschliesst, Leiden auf sich zu nehmen. Dies ist der innerste Kern der Versöhnung, die wir ökumenisch gemeinsam zu bezeugen haben.

2. Von daher öffnet sich der Blick auf die zweite Perspektive im Brief des Apostels Paulus: Gott „hat den, der keine Sünde kannte, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm Gerechtigkeit Gottes würden“. Damit wird vollends sichtbar, dass Versöhnung sehr viel mehr ist als bloss ein sentimentales Gefühl. Wenn Versöhnung aus Liebe geboren wird, versteht es sich von selbst, dass wahre Liebe bereit ist zu verstehen, nicht aber zu billigen oder für harmlos zu erklären, was keineswegs harmlos ist – wie die Spaltung unter den Christen. Versöhnung ist das strikte Gegenteil zu einem schwächlichen Gewähren-Lassen von Unrecht oder zur Bagatellisierung von Schlimmem in dem Sinne, dass man etwas gut sein lässt, obwohl es schlecht ist. Vergeben kann man vielmehr nur etwas, was man ausdrücklich für schlimm hält und in seiner Negativität gerade nicht ignoriert. Vergebung und Versöhnung setzen voraus, dass ausdrücklich als schlecht beurteilt wird, was getan worden ist, und dass man bereit ist, Versöhnung zu vollziehen.

Versöhnung ist deshalb ein anspruchsvolles Unternehmen. Dies wird gerade dort deutlich, wo sie von Christus her verbindlich zugesprochen worden ist. Es muss uns bleibend zu denken geben, dass Vergebung und Versöhnung das erste Geschenk des Auferstandenen an seine Jünger ist, wenn er ihnen zusagt: „Empfangt den Heiligen Geist: Wem ihr die Sünden vergebt, dem sind sie vergeben; wem ihr die Vergebung verweigert, dem ist sie verweigert“ (Joh 20, 23). Die Jünger werden damit gesandt, Altes und Veraltetes, nämlich Schuld, aus der Welt zu schaffen und Neues, nämlich Vergebung in die Welt zu bringen. Darin besteht der Versöhnungsauftrag, zu dem die Jünger Jesu Christi in die Welt gesandt sind.

3. „Wir sind also Gesandte an Christi statt, und Gott ist es, der durch uns mahnt: Wir bitten an Christi statt: Lasst euch mit Gott versöhnen.“ In dieser dritten Perspektive, die sich uns im Brief des Apostels Paulus zeigt, kommt nicht nur an den Tag, dass wir Christen berufen sind, der Versöhnung zu dienen, sondern auch und vor allem dass wir dies im Auftrag und in der Vollmacht Jesu Christi tun dürfen.

Um im Dienst der Versöhnung stehen zu können, müssen wir uns aber immer wieder darum sorgen, dass wir selbst versöhnt sind. Der beste Weg, den uns das Evangelium anbietet, ist das Gebet. Es verhilft dazu, den anderen Menschen, auch und gerade denjenigen, mit dem man in unversöhnter Beziehung steht, in einem neuen Licht zu sehen, nämlich im grösstmöglichen Horizont Gottes. Das Gebet vermag sogar „Feinde“ in „Brüder und Schwestern“ zu verwandeln, wie dies Jesus uns in der Bergpredigt zumutet. Es ist kein Zufall, dass Jesus seine Aufforderung zur Feindesliebe sofort mit der weiteren Zumutung verbindet: „Betet für die, die euch verfolgen“ (Mt 5, 44). Im und durch das Gebet hat sich Jesus selbst am Kreuz zur Bitte um Versöhnung und Vergebung der Schuld durchgerungen: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“ (Lk 23, 34). Versöhnung hat ihren Ort des Entstehens unter dem Kreuz. In konsequenter Nachfolge Jesu wird von Stephanus, dem ersten Märtyrer der Kirche, Gleiches berichtet: Nachdem sie ihn gesteinigt hatten, schrie er laut: „Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht an!“ (Apg 7, 59).

Diese biblischen Zeugnisse belegen die schöne Botschaft: Das Gebet füreinander ist in der Tat die Intensivstation der Versöhnung. Versöhnung zwischen Christen verschiedener Kirchen und Versöhnung in der heutigen Welt beginnt im Gebet, der kostbaren Perle der Versöhnung, und will ins alltägliche Leben hinein strahlen. Beten wir darum, dass aus der ökumenischen Begegnung in diesen Tagen Versöhnung reifen kann, und beten wir darum, dass eine versöhnte Christenheit den Weg in eine Zukunft Europas weist. Dann sind die drei Stichworte unseres Kongresses und der morgigen Kundgebung nicht nur Worte, sondern mit Leben erfüllt: Begegnung – Versöhnung – Zukunft.

Versöhnung mit der Zukunft

Und noch einmal „Miteinander für Europa“. Von der Homepage habe ich den Vortrag des bekannten Soziologen Michael Hochschild vom 1.7.2016 heruntergeladen und dokumentiere ihn.

Michael Hochschild: Über die Versöhnung mit der Zukunft

Kongress „Miteinander für Europa“ Freitag, 01.07.2016 München
Meine Damen und Herren, ich bin nach München gekommen, um Ihnen eine einfache, aber wichtige Frage vorzulegen: Hat die Hoffnung eine Zukunft? Ich stelle Ihnen diese Frage, weil ich glaube, dass Sie als Bewegungen die Antwort sind. Unabhängig davon, welche Antworten sie als einzelne Gemeinschaft geben oder bereithalten. Wie komme ich als Soziologe dazu, Ihnen so viel zuzutrauen?

Das liegt zunächst einmal nicht an ihnen, sondern an der Frage. Eigentlich heißt sie: Hat die Hoffnung eine Zukunft oder ist unsere Welt heillos in Krisen und Probleme verstrickt? Falls die Zukunft wirklich noch eine Chance bekommt, wie sollten wir sie nennen –diese neue Welt? Und braucht sie womöglich Unterstützung von gesellschaftlichen, um nicht zu sagen religiösen Gestaltungskräften?

Ich glaube, erste Antworten sind beinahe genauso einfach wie die Fragen –und führen uns auf die Bedeutung der Bewegungen:

1. Die Zukunft braucht Hoffnung, wenn wir nicht in der gegenwärtigen Dauerkrise feststecken und daran verzweifeln wollen.

2. Die Zukunft braucht jedoch nicht nur viel Hoffnung, sondern die erhoffte Welt auch einen anderen Namen als den der Moderne, weil das Und-so-weiter der modernen Gesellschaft empfindlich gestört ist und wir an mannigfachen Orientierungskrisen leiden. Wenn die Zukunft anders werden soll, dann steht am Ende einer Entwicklung zum Besseren die so genannte postmoderne Gesellschaft.

3. Ob es am Ende auf eine bessere Wirklichkeit hinausläuft, hängt nicht zuletzt von entsprechend frischen kulturellen Gestaltungskräften ab. Hier kommt der Beitrag von neuen geistlichen Bewegungen und auch von neuen sozialen Bewegungen zur Geltung: Sie zielen mit ihren hohen Idealen immer schon auf ein Morgen und nehmen deshalb einen Teil dieses Gesellschafts- wie Kirchenprogramms an sich schon vorweg. Kurzum: Sie zeigen schon heute, wie es morgen anders gehen könnte!

Der Weg zu einer Versöhnung mit der Zukunft könnte also ganz einfach sein. Gerade für Bewegungen. Aber wie so oft, ist es in der Wirklichkeit doch etwas schwieriger als man denkt.

Das liegt im Wesentlichen an zwei Herausforderungen: Zum einen an der Natur unserer gegenwärtigen Probleme. Wir stecken in einer tiefen Systemkrise der modernen Gesellschaft; jetzt reicht es nicht mehr, sich an die neuen Umstände ständig neu anzupassen –ein grundlegender Wandel unserer modernen Zivilisation hat eingesetzt und abverlangt von uns ein neues Denken und Handeln! Die zweite Herausforderung liegt in den neuen geistlichen Bewegungen selbst: Ihr Glaube, ihr Engagement und besonders ihre Zuversicht sind auf dem Weg aus der Krise sehr gefragt, weil sie das nötige Vertrauen in die Zukunft schaffen. Aber die neuen geistlichen Bewegungen müssen sich dazu stärker als bisher als kulturelle Gestaltungskräfte verstehen und entsprechend verhalten. In gewisser Weise müssen sie mehr soziale als geistliche Bewegung werden.

Ich will Ihnen einen kurzen Einblick in diese zwei Herausforderungen für eine Versöhnung mit der Zukunft geben.

Ich beginne mit der Natur unserer gegenwärtigen Probleme: Sie sind anders als noch am Ende des 20.Jahrhunderts, als man einen „Kampf der Kulturen“ befürchtete. Damals war die Sorge dass nach dem Ende des Kalten Krieges internationale Konflikte sich zunehmend entlang  der

 

Bruchlinien zwischen den Kulturen entwickelten –gewissermaßen Orient gegen Okzident. Man war der Ansicht, dass nur ein Dialog mithilfe von Vermittlungsinstitutionen das Risiko eines gewaltsamen Zusammenstoßes verringern konnte. Zu diesen Vermittlungsinstitutionen wurden damals Einrichtungen wie die Kirchen und demokratische Parteien oder auch die Medien gezählt. Mehr Information und mehr Teilhabe am öffentlichen Leben sollten als Kitt für Gesellschaften in der Zerreißprobe genügen. Erstaunlich ist: Die Bewegungen gehörten nicht dazu. Weder die neuen sozialen Bewegungen noch die neuen geistlichen Bewegungen.

Das ist heute anders. Die Situation ist anders und sogar die Natur der Vermittlungsprobleme ist am Anfang des 21.Jahrhunderts nicht mehr die gleiche wie am Ende des 20.Jahrhunderts. Bewegungen kommt auf dem Weg aus der Moderne eine Schlüsselstellung zu. Können Sie sich vorstellen, woran das liegt? Und was das heißt?

Zweifelsohne erleben wir heute einen Bedeutungszuwachs bei den Bewegungen. Zum Teil liegt das an der steilen Karriere der Bewegungen selbst und zum Teil an der zeitgleichen  Krise der mit ihnen konkurrierenden Organisationen; die Menschen suchen heute nach dem Unverstellten und gehen auf Distanz zum allzu Formalen, Bürokratischen. Das spricht mehr für Bewegungen und weniger für Organisationen. Zum besonderen Teil liegt der Bedeutungszuwachs der Bewegungen aber an der Systemkrise der modernen Gesellschaft.  Die gesellschaftlichen Prozesse der modernen Arbeitsteilung verhaken sich zunehmend und stottern dahin. Systemkrise heißt also: Das Betriebssystem der Moderne funktioniert nicht mehr. Seit der Finanzkrise 2007 wissen wir, dass wir mit der Wirtschaft das moderne Leitsystem verloren haben, aber weit und breit kein Ersatz in Sicht ist, Kunst sich sprichwörtlich vermarktet und Politik eher von den Zentralbanken als von Regierungen gemacht wird. Hybride Zeiten, in denen Bewegungen als Alternativen gefragt sind, weil sie schon immer gezeigt haben, wie es auch anders geht –jenes Leben in der Moderne.

Das Problem ist deshalb heute nicht ein gewisser Pluralismus wie wir ihn seit der modernen Gesellschaft im 18./19.Jahrhundert kennen, sondern der Mangel an klarer Gestaltung. Das aktuelle Problem des Pluralismus ist seine Formlosigkeit! Mit einer arbeitsteiligen Weltgesellschaft konnte man sich noch auseinandersetzen und hier und da vielleicht arrangieren, genauer gesagt: humanisieren. Mit Nichts geht das schlicht nicht mehr. Wir müssen damit rechnen, dass das Ende der Gesellschaft gekommen ist und neue Prozesse einer neuen Vergesellschaftung noch ganz am Anfang stehen.

Wir leiden heute, kurz gesagt, an Unbestimmtheit! Ein Beispiel: Aus dem modernen Versprechen der Freiheit ist inzwischen eine Zumutung geworden; haltlos kann sie weder gelebt noch verwirklicht werden. Ein anderes Beispiel: Aus dem erwarteten „Kampf der Kulturen“ sind vor allem Kämpfe innerhalb der Kulturen geworden, Kulturen sind längst keine kompakten Einheiten mehr –der aktuelle Islam zerfleischt sich selbst, auf andere Weise wie die EU, von den weltweiten Verteilungskonflikten, die den sozialen Frieden bedrohen, ganz abgesehen.

Unter diesen aktuellen Bedingungen fehlender sozio-kultureller Stabilität reicht es nicht mehr nach hinten auf die Ursachen von Konflikten zu schauen und auf den Lösungsbeitrag von so genannten Vermittlungsinstitutionen zu hoffen. Wer das z.B. in der Flüchtlingskrise tut, weiß selbst dann, wenn er einzelne Ursachen kennt und bekämpft, noch immer nicht, wie das Zusammenleben künftig aussehen und gelingen soll. Das ist keine Strategie zur Versöhnung, sondern höchstens Zeitgewinn –und insofern Zeichen der Ratlosigkeit, genauer gesagt: Visionsarmut! Es braucht heute deshalb einen Blick nach vorne; anders gesagt: eine Versöhnung mit der Zukunft.

Und dafür sind die neuen sozialen Bewegungen, aber noch mehr die neuen geistlichen Bewegungen wie geschaffen. Zukunftsvisionen gehören zu ihnen wie der Mitgliedschaftsausweis zur Organisation. Bewegungen bieten nicht nur konkrete Alternativen für andere Lebensorientierungen, sondern sie öffnen damit vor allem moderne Verengungen. Beispiel modernes Individuum: Daraus wird bei ihnen (wieder) eine ethische bzw. religiöse

 

und vor allem soziale Person mit entsprechenden Bindungen und Verantwortungen in ihrer konkreten Lebenswelt.

In dieser Hinsicht steht den neuen geistlichen Bewegungen allerdings eine Bewährungsprobe ins Haus. Aus Sicht der Bewegungsforschung müssen sie zeigen, dass sie als geistliche Bewegung nie nur geistliche, sondern immer auch soziale Bewegung sind –und im Glauben eine kulturelle Gestaltungskraft nutzen. Dann sind sie selbst den neuen sozialen Bewegungen überlegen, weil sie nicht wie diese auf bestimmte Themen festgelegt sind, sondern mit Gott und der Welt eine unbegrenzte Reichweite haben. Das Miteinander der geistlichen Bewegungen und ihrer Kirchen ist dabei entscheidend: Nur eine versöhnte Kirche kann einen glaubwürdigen Beitrag zur Versöhnung leisten. Allerdings wird ein „Miteinander für Europa“ bei einer Versöhnung mit der Zukunft nicht reichen; ein Miteinander für die ganze Welt von morgen ist gefragt. Alles andere wäre für globale Bewegungen wie die Fokolare, Sant’Egidio oder Schönstatt und viele andere auch weit unterhalb ihres Selbstverständnisses.

Ein Schlusswort: Hat die Hoffnung eine Zukunft? Ich habe Ihnen diese Frage vorgelegt, weil ich davon überzeugt bin, dass Sie die Antwort sind. Sie werden bei der Versöhnung mit der Zukunft gebraucht. Das heißt aber auch, dass Sie als geistliche Bewegungen kein Selbstzweck sind. Wo sie sich zu ihrer kulturellen Gestaltungskraft bekennen, machen Sie deutlich, dass es zur aktuellen Krise eine Alternative, ja ein Morgen gibt. Sie zeigen damit eigentlich, dass neue geistliche Bewegungen aus der Zukunft geboren sind und deshalb auf die Versöhnung mit der Zukunft abzielen!

Europa und die Angst

Herbert Lauenroth hielt beim Kongress von „Miteinander für Europa“ ein Statement zu einer heiklen Frage. Hier sein Text, den ich von der Homepage vom „Miteinander für Europa“ genommen habe.

EUROPA IM „ZEITALTER DER ANGST“

Liebe Freunde!

Beginnen möchte ich meine – eher grundsätzlich gehaltenen – Überlegungen zum Thema der Angst, der Angst in Europa mit zwei eindringlichen Bildern biblischer bzw. säkularer Prägung:

 (1) Im Buch Genesis ruft Gott nach dem Menschen – in einem dramatischen Augenblick: „Wo bist Du, Adam?“ – Der Ruf geht an den, der sich – schamerfüllt und angstgetrieben – in das Unterholz geflüchtet hat, der sich vor dem Anblick Gottes verbirgt, weil er sich seiner existenziellen Nacktheit und Armseligkeit bewusst geworden ist. Das Bild beschreibt unsere gegenwärtige Situation in Europa recht drastisch: Unser Kontinent verbarrikadiert sich, verschanzt sich in seiner ausweglos erscheinenden Gegenwart. 

Europa steckt also in diesem Unterholz, diesen Verstrickungen in die eigenen Begrenzungen und Schuldgeschichten. Dieses Unterholz ist Idomeni, die mazedonische Grenze, der stacheldrahtbewehrte Zaun an der ungarisch-serbischen Grenze, es steht aber auch für die vielfältigen Aus-Grenzungen in unserer Gesellschaft.   

Liest man nun das biblische Szenarium im Blick auf den Ausbau Europas zur „Festung“ – als Maßnahme gegen die Migranten, dann gewinnt das Bild noch einmal eine andere Lesart: Dann steht hier nämlich der europäische Souverän vor uns: als der eigentlich Unbehauste, Heimatlose, Flüchtende, der auf der fatalsten aller Fluchten ist: der vor sich selbst.

Europa muss also neu diesen Anruf des biblischen Gottes vernehmen: als Frage nach der Bestimmung, der Sendung und Verantwortung für sich und die Welt: „Adam/Europa, wo bist Du?“    

(2) Dieses Bild einer existenziellen Enge, aus der Gott herausruft, findet seine Entsprechung in den Visionen einer kosmischen Verlorenheit des Menschen in einem indifferenten, ungastlichen Universum. Dem hat der Philosoph und Mathematiker Blaise Pascal Ausdruck verliehen: „Das ewige Schweigen dieser unendlichen Räume macht mich schaudern!“.  Es geht hier um ein Entsetzt- oder Ausgesetzt-Sein, das den auf sich zurückgeworfenen, isolierten Menschen ängstigt – und leitmotivisch in der Geschichte Europas als „Verlust der Mitte“ oder „metaphysische Obdachlosigkeit“ beschrieben worden ist. 

(3) Diese Angst vor Selbst- und Weltverlust kann aber zugleich auch einen neuen Erfahrungs-Raum erschließen: 

* Der tschechische Dichter und Staatspräsident Vaclav Havel hat seinerzeit – im Rückblick auf die friedlichen Revolutionen in Ostmitteleuropa in den Jahren 1989/90 – von der ANGST als „ANGST VOR DER FREIHEIT“ gesprochen:

Wir waren wie Gefangene, die sich an das Gefängnis gewöhnt hatten, und dann, aus heiterem Himmel in die ersehnte Freiheit entlassen, nicht wussten, wie sie mit ihr umgehen sollten und verzweifelt waren, weil sie sich ständig selbst entscheiden und Verantwortung für ihr eigenes Leben übernehmen mussten. 

Es gilt, so Havel, sich dieser Angst zu stellen. Denn so kann sie in uns schließlich auch neue Fähigkeiten wecken: Angst vor der Freiheit kann genau das sein, was uns schließlich lehrt, unsere Freiheit wirklich richtig auszufüllen. Und Angst vor der Zukunft kann genau das sein, was uns zwingt, alles dafür zu tun, dass die Zukunft besser wird.       

* Der große protestantische Theologe Paul Tillich schließlich verortet die Angst als grundlegende Erfahrung menschlicher Existenz:  Der Mut zum Sein, schreibt er, wurzelt in dem Gott, der erscheint, wenn Gott in der Angst des Zweifels verschwunden ist.  

Das bedeutet: Erst die Erfahrung der Angst – als Verlust eines vormals prägenden und für unveränderlich gehaltenen Gottes-, Menschen und Welt-Bildes – setzt das frei, was hier „Mut zum Sein“ genannt wird. Der wahre – göttliche – Gott erscheint gewissermaßen im Herzen der Angst, und Er allein bewirkt Ent-Ängstigung. Und diese Erfahrung wiederum führt den Menschen zu den tieferen Erfahrungshorizonten des Seins. Gott offenbart sich in der vermeintlichen Gesichts- und Geschichtslosigkeit der Welt als Antlitz des Anderen.

(4) Es gilt also, in diese „Weltinnenräume“ biografischer wie kollektiver Ängste und Verlust-erfahrungen hinabzusteigen, um dort jenem Gott zu begegnen, der uns rettet. Zwei Beispiele: 

(4.1) Yad Vashem: Mein Besuch im vergangenen Herbst in der Erinnerungsstätte an die Shoah ist mir unvergeßlich: Ich gehe wie benommen durch diese labyrinthisch anmutende Architektur und gelange schließlich zum „Denkmal für Kinder“, einem unterirdisch angelegten Raum, in dem das Licht brennender Kerzen durch Spiegel reflektiert wird. In diesem dunklen Resonanzraum körperloser Stimmen, die unablässig die elementaren Lebens-Daten der unschuldigen Opfer in Erinnerung rufen, empfinde ich eine neue, tiefe Solidarität  – gerade im Blick auf diese tiefsitzende Ur-Angst, nicht nur physisch vernichtet, sondern überhaupt aus dem kulturellen Gedächtnis gelöscht zu werden. Das Zeugnis dieses Ortes wird mir zur eigenen Erfahrung: Dem verlorenen Namen einen Ort geben, dem Namen Gottes und seiner Geschöpfe eine Erinnerung bewahren. Mein Eintrag ins Gästebuch ist ein Satz des Propheten Jesaja und bringt sowohl meine Verstörung als auch die neue Hoffnung auf die unverlierbare Nähe eines väterlichen Gottes zum Ausdruck: „Fürchte Dich nicht, denn ich habe Dich erlöst. Ich habe Dich mit Deinem Namen gerufen, Du bist mein!“

(4.2) Und im Blick auf die Großen europäischen Erzählungen der Angst beschreibt der tschechische Philosoph und Theologe Tomás Hálik eine ähnliche Erfahrung: 

„Das kühne Projekt der europäischen Einheit errichten wir nicht auf unbekanntem Boden oder Brachland. Wir bauen es auf einem Boden, in dessen Schichten vergessene Schätze und verbrannte Trümmer lagern, wo Götter, Helden und Verbrecher begraben sind, verrostete Gedanken und nicht explodierte Bomben liegen. Wir müssen uns von Zeit zu Zeit aufmachen und in die Tiefen Europas blicken, in die Unterwelt, wie Orpheus zu Eurydike oder der getötete Christus zu Abraham und den Vätern aus dem Alten Testament.“ 

(5) Für mich bündeln sich diese verschiedenen „Abstiege in die Abgründe der Angst“ in der Schilderung der Taufe Jesu bei Matthäus: 

„Als aber Jesus getauft war, stieg er sogleich aus dem Wasser herauf; und siehe, die Himmel wurden ihm aufgetan, und er sah den Geist Gottes wie eine Taube herniederfahren und auf ihn kommen. Und siehe, eine Stimme ergeht aus den Himmeln, die spricht: Dieser ist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen gefunden habe.“   

Mit Christus absteigen, um an jenen Nullpunkt zu gelangen, über dem sich dann ganz überraschend der Himmel öffnet. Und hier zeigt sich Gottes Lebensgesetz: „Was von oben kommt, muss von unten wachsen.“  

So entsteht in, mit und durch Jesus jene „geschwisterlich“ geprägte Solidargemeinschaft, in der sich die einzelnen nicht nur als „Schwestern und Brüder“, sondern auch als „Söhne und Töchter Gottes“ erkennen, in der also „Menschenwürde“ und „Gottebenbildlichkeit“ eine untrennbare Einheit bilden. 

 (6) In seinen Aufzeichnungen aus der Haft „Widerstand und Ergebung“ sieht Dietrich Bonhoeffer den Kern der christlichen Identität als Antwort an die Anfrage Jesu im Moment seiner Todesangst in Gethsemane: „Könnt Ihr nicht eine Stunde mit mir wachen?“ –   Es ist die Einladung zur Nachtwache an der Seite Jesu, seiner dem Vater zugewandten Gegenwart in einer säkularen  – vermeintlich gott-losen – Welt, und diese Gegenwart Jesu verwandelt unterschiedlichste Orte in Erfahrungs- und Erwartungs-Räume trinitarischen Lebens. 

(7) Die „Angst“ erscheint in dieser Schlüsselstelle des Lukas-Evangeliums als privilegierter Lernort des Glaubens, an dem sich unsere diffusen, „blinden“ Ängste, bündeln und zur authentischen und erkenntnisstiftenden „Gottes-Furcht“ Jesu wandeln. 

Denn:

In, mit, durch Jesus: ereignet sich die Ent- als echte Durch-Ängstigung des Menschen auf Gott hin: Die vermeintliche Preisgabe des Sohnes wandelt sich zur Hingabe an den Vater. 

Einheit wächst als Erfahrung wechselseitigen Vertrauens aus der Sensibilität für das unverfügbare Geheimnis Gottes, der Alterität des anderen; die jüdische Philosophin Simone Weil hat für diese Erfahrung eine markante Formulierung gefunden: erst das vorbehaltlose „Einwilligen in die Distanz des anderen“  – so die franz. Philosophin Simone Weil – ermöglicht authentische Nähe und Gemeinschaft mit Gott und den Menschen. 

Und also geht es darum: Das Unbekannte, Fremde, Randständige bevorzugen –  als „Lernort“ des Glaubens – in, mit, durch Jesus.

Das gilt gerade auch für die verschiedenen Charismen und die Gemeinschaft unter ihnen: Bei einer Begegnung des „MfE“ im November 2013 mit Jean Vanier, dem Gründer der „Arche“, in Paris wurde uns deutlich: Eigentlich besteht die Aufgabe der Charismen auch darin, das „Charisma der Welt“ zu empfangen und eben dieser Welt zu spiegeln; Vaniers Zeugnis hat uns sehr beeindruckt: nicht in erster Linie mit und für die „Adressaten“ der Seligpreisungen Jesu zu leben, sondern von ihnen her. Sie, die vermeintlich Bedürftigen und Empfangenden, sind die eigentlich Gott-Begabten und Gebenden, die Träger einer Botschaft, einer Gegen¬wart Gottes, die von den Rändern wieder in die Mitte unserer Gesellschaften gelangen muss.  Der Aachener Bischof und Religionsphilosoph Klaus Hemmerle formulierte prägnant: „Lass mich an Dir die Botschaft lernen, die ich Dir zu überbringen habe“.   
(8) Diese Haltung aber verlangt eine „Schubumkehr“, eine echte Metánoia im Selbst- und Weltverständnis so mancher Christen, einen neuen Glauben an die in Christus geoffenbarte Liebe Gottes zur Welt.

Dabei gilt es, immer mehr in eine „Kultur des Vertrauens“, ja eines eben auch welthaften Gott-Vertrauens hineinzuwachsen, das in Jesus grundgelegt ist.

(9) Der Blick hinauf in die Kuppel des Zirkus-Krone-Bau lässt uns vielleicht an die Trapezkünstler denken – für mich die wahren Artisten der Ent-Ängstigung: immer im Wagnis des Vertrauens, des Loslassens und sich erneut Ausstreckens im Raum des Zukünftigen, als „Springer in der Schwebe“ (H.Nouwen). Artistischer Augen-Blick in jenem prophetischen und immer auch prekären, riskanten Zwischen von „Gnade und Schwerkraft“: als Anmut des Schwere-Losen, in der sich das Geschöpf doch immer gehalten und unterfangen, in gewisser Weise von sich „erlöst“ und zum anderen hin befreit weiß: 

„Ein Springer muss springen, und ein Fänger muss fangen, und der Springer muss mit ausgetreckten Armen und offenen Händen darauf vertrauen, dass der Fänger da sein wird. … Denke daran, dass du Gottes geliebtes Kind bist. Er wird da sein, wenn Du Deinen langen Sprung machst. Versuche nicht, nach ihm zu greifen. Er wird nach Dir greifen. Strecke einfach Deine Arme und Hände aus – und vertraue, vertraue, vertraue!“