Archiv der Kategorie: Spiritualität

getrennt und dennoch vereint

Am 70. Jahrestag der sogenannen „Schumann-Erklärung“ vom 9. Mai 1950 – die Geburtsstunde dessen, was später zur Europäischen Union werden sollte und deswegen „Europatag“ – gab es ein virtuelles Treffen der konfessionsübergreifenden Initiative „Miteinander für Europa“. In dieser sind seit nunmehr 20 Jahren verschiedene Erneuerungsbewegungen christlicher Kirchen – aus katholischer, evangelischer, orthodoxer und auch freikirchlicher Tradition – lose zusammengeschlossen, um gemeinsam zu überlegen, was denn nun Auftrag der Jüngerinnen und Jünger Christi auf diesem Kontinent sei. Eigentlich war mit dem steirischen „Ableger“ dieser Bewegung ein Treffen im Grazer Rathaus angesagt. Dies war nicht möglich, so wurden kurzerhand 1 Stunde lang Erfahrungen aus sechs europäischen Ländern miteinander geteilt: Slowakei, Ungarn, Kroatien, Slowenien, Italien und Österreich. Knapp 100 Personen waren der Konferenz zugeschaltet.

Das, was berichtet wurde, waren einfachste Initiativen – nicht nur aus Corona-Zeiten – engagierter Menschen, denen das Miteinander der Völker und Nationen auf unserem europäischen Kontinent – gestaltet aus christlichem Geist – wichtig ist. Die Berichte waren alles andere als schlagzeilenträchtig. Und dennoch! Da hatte ein kleines Ding, ein Virus, Menschheitspläne durcheinander und Grenzen dicht gemacht. Das „Miteinander“ dieser Initiative – es ist für mich nach wie vor interessant, dass dieses Netzwerk von Erneuerungsbewegungen getragen wird, denen üblicher Weise nachgesagt wird, eher mit dem Blick nach innen in den Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften präsent zu sein – wurde durchkreuzt, denn leibliches Zusammenkommen war unmöglich. Dennoch war es mit Händen zu greifen: in jeder Erfahrung wurde deutlich, dass Menschen aus christlichem Geist heraus versuchen, nicht achtlos an den Nöten, Sorgen und Notwendigkeiten anderer vorüberzugehen. Das Miteinander wurde in diesem „Treffen“ daher nicht körperlich, sondern durch berichtetes Tun angreifbar. Einfach gerade deswegen nachhaltig, denke ich. Und damit wurde auch etwas deutlich, was uns schmerzlich derzeit auf europäischer Ebene abgeht: das Miteinander für Europa eben – so manches an Selbstisolation der einzelnen Staaten hat ja erneut fröhliche Urständ in dieser Krise gefeiert. Oder wurde darin nur etwas von dem sichtbar, was eigentlich ohnedies „unter der Bettdecke“ auch bislang eher schon gelebt wurde?

Für meine Schlussworte am Ende dieser Stunde ist mir daher der Vergleich eingefallen, der im Bild der durchkreuzten Pläne deutlich wird. Da war also – die Umstände, wieso es dazu gekommen ist, sind nicht relevant in diesem Fall – praktisch alles an Planungen durchkreuzt worden: Statt Miteinander: getrennt sein; statt gemeinsames Bekenntnis: virtuelle Berichte, einer nach dem anderen. Durch das Kreuz also – eine neue Form von – Einheit. Natürlich: die Begegnung, die für einen Tag geplant gewesen ist, kann nicht durch eine Videokonferenz in 1 Stunde ersetzt werden. Das Wesentliche – und das getraue ich mir zu sagen – „Miteinander für Europa“ unterwegs zu sein wurde dennoch gelebt und deutlich – in einer ganz anderen Art und Weise und auf einer anderen Ebene als ursprünglich geplant und gedacht. Menschen aus unterschiedlichen Nationen, mit unterschiedlicher Sprache, aus unterschiedlichen kirchlichen Erfahrungen – „durchkreuztes“ Christsein, das sich in dieser Art Jesus mit seiner Bitte um die Einheit aller, die durch die Jünger an ihn glauben, wohl so auch nicht gedacht hat (vgl. Joh17,20f) – sind dennoch im Leben ihres Bekenntnisses gleichsam geeint. So blieb mir eigentlich nur zu sagen: durch das Kreuz sind wir bei aller Verschiedenheit und Getrenntheit untereinander vereint. Möge diese Initiative in Graz, die durch das „Kreuz Corona“ beinahe Schiffbruch erlitten hätte, mutig vorangetrieben werden. – Ehrlich: ich freue mich jetzt schon auf den hoffentlich dann in realer Begegnung stattfindenden Tag im Mai 2021!

Nackte Fragen

Ich war ganz einfach von den Gedanken angetan, die Ermes Ronchi, ein Servit in Mailand, in der Fastenzeit vor Papst Franziskus und den leitenden Kurienmitarbeitern ausgebreitet hat. Gemeinsam mit Freunden habe ich in den vergangenen 14 Tagen die 10 Vorträge „portionenweise“ genossen – im wahrsten Sinn des Wortes. Vor meinen Augen wurde eine Kirche sichtbar, die durch und durch geprägt ist von freien Menschen in der Nachfolge. Und gerade deshalb wurden die ungeschminkten, die „nackten“ Fragen aus dem Evangelium, die freilassen, Angst nehmen, ja Lust machen sich auf den Weg der Nachfolge in den Fußspuren Jesu Christi einzulassen, zu einer großartigen Verinnerlichung dessen, was ich zu leben versuche.

Ich weiß: ich kann es vielfach nicht so ausdrücken;
ich weiß, dass ich vielfach danebenliege mit meinen Versuchen voranzukommen auf dem Weg zur Heiligkeit –
aber ich weiß auch: „Ich bin unendlich geliebt – von Gott“.
Und das gibt mir immer wieder aufs Neue den Mut (neu) anzufangen, nicht aufzuhören weiterzugehen, den Nächsten und damit auch (nur?) den vielleicht nächsten Schritt in den Blick zu nehmen und nicht die großen Lösungen an- und durchzudenken, die wohl auch Gefahr laufen würden, gerade deswegen nicht umgesetzt zu werden …

„Fragen ermöglichen (neues) Leben“ ist mir deutlich geworden, und durch sie – Jesus lebt es uns beispielhaft vor – werden Prozesse angestoßen, die das einfache Leben so vieler, die ihm damals begegnet sind, auf eine neue Fährte gesetzt haben. In der persönlichen Auseinandersetzung mit den uns hier vorgelegten Gedanken kam mir einfach immer und immer wieder die Frage, nein die Gewissheit hoch: „Wenn dies damals der Fall war, dann ist dasselbe auch heute möglich?!“ Das Büchlein ist voll von geistlichem Leben – weil es gesättigt ist mit Erfahrungen aus dem Alltag. Das eine ist ohne das Andere nicht zu denken, auch wenn wir, als „gelernte Kirchenleute“ oft das eine vor das – und damit auch getrennt vom – Andere/n zu setzen versucht, Leben und Glauben (gefährlich?) auseinanderhalten.

Eine nicht ganz „lupenreine“ Darstellung der Dreifaltigkeit als Fresko an der Außenseite des „Hospizes der Dreifaltigkeit“ in der Via Roma in Valgrana (Piemont). – Die vergangenen Tage waren auch geprägt von so manchen Begegnungen.

Seinen Zuhörern damals und den Lesern heute bleiben aktuelle Fragestellungen nicht erspart, weil es im Evangelium um das Leben und das Heil geht und nicht um Fixierung, Buchstaben usw. –
Natürlich: gerade wir im Norden Europas „schaffen“ es meist nicht, die Fragen nach den Grundlagen von Kirche zu stellen, weil diese „ohnedies klar strukturiert vor Augen steht“ – und wir bleiben daher oft auch bei diesen jahrhundertalten und mit viel Segen für uns und unsere Gegend verbundenen Formen und Ausdrucksweisen von Kirche stecken, ja schaffen es auch nicht, die damit verbundenen Problemstellungen auszublenden, so geprägt sind wir von diesen (!).

Gerade deswegen lohnt sich das „Graben in die Tiefe“ erst Recht, weil Kirche von Anfang an eine Gemeinschaft derer war, die ihren Anker nicht in dieser Welt ausgeworfen hatten, sondern ins Vertrauen.

Einfach schön! – Und gerade deswegen sind die geistlichen Gedanken – bei allem, was auch nicht behandelt wurde – eine sehr tiefe Gewissens- und Lebens-Erforschung, angetan dazu – und dazu möchte ich ermuntern! – dem entsprechend zu leben.

Wenn Kirche wirklich so gelebt werden würde – wobei es gilt damit bei sich selbst anzufangen – blüht sie unweigerlich.

Hier nun die bibliographischen Daten:
Ermes Ronchi: Die nackten Fragen des Evangeliums,
München-Zürich-Wien: Verlag Neue Stadt 2017,
192 Seiten (€ 19,50)
ISBN 978-3-7346-1112-4

Glauben ist was sehr Schönes

Bei der Barbarafeier in der Kirche von Bärnbach hatte ich folgende Worte für die Predigt gestern vorbereitet:

Welch großartiges Wort uns aus dem Römerbrief doch zum Fest der hl. Barbara geschenkt wird: „Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Gewalten der Höhe oder Tiefe noch irgendeine andere Kreatur können uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn.“ Lassen wir uns die-se Zusicherung, die Paulus uns allen mitgibt, doch mal auf der Zunge zergehen – und damit auch deutlich machen: Nichts, nichts, absolut nichts gibt es, das uns aus der Zusage der Liebe Gottes, aus seiner Nähe wegbringen kann. – Wir, wenn wir uns selbst gegenüber ehrlich sind, lassen Gott des öfteren außen vor, entfernen uns von ihm. Er aber ist einer – und die ganze Bibel gibt Zeugnis davon – der immer und immer wieder neu sich auf den Weg macht zu den Menschen. Letztlich wird dies gerade in diesen Tagen und Wochen hin auf Weihnachten deutlich. Auch unser persönliches Dasein ist letztlich ein Ankommen des Herrn – so wie er bei jenen angekommen und damit auch ins Leben umgesetzt wurde, die wir „Heilige“ nennen.
Barbara genießt bei uns als eine der 14 NothelferInnen nach wie vor – erst Recht unter denen, die dem Bergarbeiterge-werbe verbunden sind –, großes Ansehen. Von ihrem Leben ist zwar nicht viel bekannt, aber dass sie von ihrem eigenen Vater in einem Turm eingesperrt wurde, hat ihr wohl das bekannte Patrozinium eingebracht. Auch an diesem Ort, an dem sie eingesperrt war, durfte sich diese Frau, die dann den Martertod durch das Schwert starb, Seiner Nähe gewiss sein und wird damit zu einer Lichtgestalt für uns Christin im Advent, also für jene Zeit, in der wir die – endgültige – Ankunft des Herrn und Erlösers erwarten.
Daher: stehen wir ruhig auch zur Tatsache, dass Gott uns nahe ist! Ich glaube, dass wir uns da manchmal schwertun oder uns schamhaft zurückziehen. Ich frage mich eigentlich, wieso das bei uns so ist?! Denn: der Glaube an Gott ist ja was Schönes, was ganz und gar Schönes. Nichts Besseres kann mir passieren als um Gott wissen zu dürfen! – Natürlich: ich weiß auch, dass viele sofort sagen, dass dieses und jenes in der Kirche, bei jenen also die von sich aus sagen, dass sie Gott ernstnehmen, nicht passt, erst Recht, wenn dann alle möglichen und unmöglichen Dinge aus der Geschichte hervor-gekramt werden als Entschuldigung dafür, sich nicht mit dem Glauben auseinandersetzen zu müssen. Hören wir damit doch einfach auf! Lassen wir uns Gott nicht nehmen und entdecken wir die Kirche und das Leben in ihr doch als Mög-lichkeit, es mir selbst immer wieder zu gönnen, mich demjenigen zu verschreiben, der wirklich einzig und allein von sich sagen kann, dass ihm zu folgen sei. Wenn ich denke, wer nicht alles derzeit von sich behauptet, die Wahrheit gepachtet zu haben und wem wir nicht alles sofort glauben; mehr noch: was nicht alles an Abstrusem heute von Menschen ernst genommen wird. Weg mit diesen Versklavungen! Weg mit dem Hinterhergehen hinter Menschen und Dingen dieser Welt. Gott allein genügt! Die Geschichte der Kirche ist nämlich auch erfüllt von Menschen wie Barbara eine war, die deutlich machen, dass das Leben dann gelingt und wirklich eines eingeschrieben in die Weltgeschichte bleibt, wenn Gott ernst ge-nommen wird. Die Kirche, in der wir leben, möchte nichts anderes als uns immer wieder und aufs Neue das deutlich ma-chen: Mensch, du erlangst dann die Fülle des Daseins, wenn Du Dich auf mich einlässt, auf mich hörst und dem Wort entsprechend lebst, wenn du dich immer wieder stärken lässt von mir – denn angesichts der Welt und ihren Herausforde-rungen hast Du gerade heute (!) Stärkung bitter notwendig.
Nichts kann uns scheiden von der Liebe Christi! Also: machen wir ernst mit dem Glauben! Leben wir ihn!

Versöhnung mit der Zukunft

Und noch einmal „Miteinander für Europa“. Von der Homepage habe ich den Vortrag des bekannten Soziologen Michael Hochschild vom 1.7.2016 heruntergeladen und dokumentiere ihn.

Michael Hochschild: Über die Versöhnung mit der Zukunft

Kongress „Miteinander für Europa“ Freitag, 01.07.2016 München
Meine Damen und Herren, ich bin nach München gekommen, um Ihnen eine einfache, aber wichtige Frage vorzulegen: Hat die Hoffnung eine Zukunft? Ich stelle Ihnen diese Frage, weil ich glaube, dass Sie als Bewegungen die Antwort sind. Unabhängig davon, welche Antworten sie als einzelne Gemeinschaft geben oder bereithalten. Wie komme ich als Soziologe dazu, Ihnen so viel zuzutrauen?

Das liegt zunächst einmal nicht an ihnen, sondern an der Frage. Eigentlich heißt sie: Hat die Hoffnung eine Zukunft oder ist unsere Welt heillos in Krisen und Probleme verstrickt? Falls die Zukunft wirklich noch eine Chance bekommt, wie sollten wir sie nennen –diese neue Welt? Und braucht sie womöglich Unterstützung von gesellschaftlichen, um nicht zu sagen religiösen Gestaltungskräften?

Ich glaube, erste Antworten sind beinahe genauso einfach wie die Fragen –und führen uns auf die Bedeutung der Bewegungen:

1. Die Zukunft braucht Hoffnung, wenn wir nicht in der gegenwärtigen Dauerkrise feststecken und daran verzweifeln wollen.

2. Die Zukunft braucht jedoch nicht nur viel Hoffnung, sondern die erhoffte Welt auch einen anderen Namen als den der Moderne, weil das Und-so-weiter der modernen Gesellschaft empfindlich gestört ist und wir an mannigfachen Orientierungskrisen leiden. Wenn die Zukunft anders werden soll, dann steht am Ende einer Entwicklung zum Besseren die so genannte postmoderne Gesellschaft.

3. Ob es am Ende auf eine bessere Wirklichkeit hinausläuft, hängt nicht zuletzt von entsprechend frischen kulturellen Gestaltungskräften ab. Hier kommt der Beitrag von neuen geistlichen Bewegungen und auch von neuen sozialen Bewegungen zur Geltung: Sie zielen mit ihren hohen Idealen immer schon auf ein Morgen und nehmen deshalb einen Teil dieses Gesellschafts- wie Kirchenprogramms an sich schon vorweg. Kurzum: Sie zeigen schon heute, wie es morgen anders gehen könnte!

Der Weg zu einer Versöhnung mit der Zukunft könnte also ganz einfach sein. Gerade für Bewegungen. Aber wie so oft, ist es in der Wirklichkeit doch etwas schwieriger als man denkt.

Das liegt im Wesentlichen an zwei Herausforderungen: Zum einen an der Natur unserer gegenwärtigen Probleme. Wir stecken in einer tiefen Systemkrise der modernen Gesellschaft; jetzt reicht es nicht mehr, sich an die neuen Umstände ständig neu anzupassen –ein grundlegender Wandel unserer modernen Zivilisation hat eingesetzt und abverlangt von uns ein neues Denken und Handeln! Die zweite Herausforderung liegt in den neuen geistlichen Bewegungen selbst: Ihr Glaube, ihr Engagement und besonders ihre Zuversicht sind auf dem Weg aus der Krise sehr gefragt, weil sie das nötige Vertrauen in die Zukunft schaffen. Aber die neuen geistlichen Bewegungen müssen sich dazu stärker als bisher als kulturelle Gestaltungskräfte verstehen und entsprechend verhalten. In gewisser Weise müssen sie mehr soziale als geistliche Bewegung werden.

Ich will Ihnen einen kurzen Einblick in diese zwei Herausforderungen für eine Versöhnung mit der Zukunft geben.

Ich beginne mit der Natur unserer gegenwärtigen Probleme: Sie sind anders als noch am Ende des 20.Jahrhunderts, als man einen „Kampf der Kulturen“ befürchtete. Damals war die Sorge dass nach dem Ende des Kalten Krieges internationale Konflikte sich zunehmend entlang  der

 

Bruchlinien zwischen den Kulturen entwickelten –gewissermaßen Orient gegen Okzident. Man war der Ansicht, dass nur ein Dialog mithilfe von Vermittlungsinstitutionen das Risiko eines gewaltsamen Zusammenstoßes verringern konnte. Zu diesen Vermittlungsinstitutionen wurden damals Einrichtungen wie die Kirchen und demokratische Parteien oder auch die Medien gezählt. Mehr Information und mehr Teilhabe am öffentlichen Leben sollten als Kitt für Gesellschaften in der Zerreißprobe genügen. Erstaunlich ist: Die Bewegungen gehörten nicht dazu. Weder die neuen sozialen Bewegungen noch die neuen geistlichen Bewegungen.

Das ist heute anders. Die Situation ist anders und sogar die Natur der Vermittlungsprobleme ist am Anfang des 21.Jahrhunderts nicht mehr die gleiche wie am Ende des 20.Jahrhunderts. Bewegungen kommt auf dem Weg aus der Moderne eine Schlüsselstellung zu. Können Sie sich vorstellen, woran das liegt? Und was das heißt?

Zweifelsohne erleben wir heute einen Bedeutungszuwachs bei den Bewegungen. Zum Teil liegt das an der steilen Karriere der Bewegungen selbst und zum Teil an der zeitgleichen  Krise der mit ihnen konkurrierenden Organisationen; die Menschen suchen heute nach dem Unverstellten und gehen auf Distanz zum allzu Formalen, Bürokratischen. Das spricht mehr für Bewegungen und weniger für Organisationen. Zum besonderen Teil liegt der Bedeutungszuwachs der Bewegungen aber an der Systemkrise der modernen Gesellschaft.  Die gesellschaftlichen Prozesse der modernen Arbeitsteilung verhaken sich zunehmend und stottern dahin. Systemkrise heißt also: Das Betriebssystem der Moderne funktioniert nicht mehr. Seit der Finanzkrise 2007 wissen wir, dass wir mit der Wirtschaft das moderne Leitsystem verloren haben, aber weit und breit kein Ersatz in Sicht ist, Kunst sich sprichwörtlich vermarktet und Politik eher von den Zentralbanken als von Regierungen gemacht wird. Hybride Zeiten, in denen Bewegungen als Alternativen gefragt sind, weil sie schon immer gezeigt haben, wie es auch anders geht –jenes Leben in der Moderne.

Das Problem ist deshalb heute nicht ein gewisser Pluralismus wie wir ihn seit der modernen Gesellschaft im 18./19.Jahrhundert kennen, sondern der Mangel an klarer Gestaltung. Das aktuelle Problem des Pluralismus ist seine Formlosigkeit! Mit einer arbeitsteiligen Weltgesellschaft konnte man sich noch auseinandersetzen und hier und da vielleicht arrangieren, genauer gesagt: humanisieren. Mit Nichts geht das schlicht nicht mehr. Wir müssen damit rechnen, dass das Ende der Gesellschaft gekommen ist und neue Prozesse einer neuen Vergesellschaftung noch ganz am Anfang stehen.

Wir leiden heute, kurz gesagt, an Unbestimmtheit! Ein Beispiel: Aus dem modernen Versprechen der Freiheit ist inzwischen eine Zumutung geworden; haltlos kann sie weder gelebt noch verwirklicht werden. Ein anderes Beispiel: Aus dem erwarteten „Kampf der Kulturen“ sind vor allem Kämpfe innerhalb der Kulturen geworden, Kulturen sind längst keine kompakten Einheiten mehr –der aktuelle Islam zerfleischt sich selbst, auf andere Weise wie die EU, von den weltweiten Verteilungskonflikten, die den sozialen Frieden bedrohen, ganz abgesehen.

Unter diesen aktuellen Bedingungen fehlender sozio-kultureller Stabilität reicht es nicht mehr nach hinten auf die Ursachen von Konflikten zu schauen und auf den Lösungsbeitrag von so genannten Vermittlungsinstitutionen zu hoffen. Wer das z.B. in der Flüchtlingskrise tut, weiß selbst dann, wenn er einzelne Ursachen kennt und bekämpft, noch immer nicht, wie das Zusammenleben künftig aussehen und gelingen soll. Das ist keine Strategie zur Versöhnung, sondern höchstens Zeitgewinn –und insofern Zeichen der Ratlosigkeit, genauer gesagt: Visionsarmut! Es braucht heute deshalb einen Blick nach vorne; anders gesagt: eine Versöhnung mit der Zukunft.

Und dafür sind die neuen sozialen Bewegungen, aber noch mehr die neuen geistlichen Bewegungen wie geschaffen. Zukunftsvisionen gehören zu ihnen wie der Mitgliedschaftsausweis zur Organisation. Bewegungen bieten nicht nur konkrete Alternativen für andere Lebensorientierungen, sondern sie öffnen damit vor allem moderne Verengungen. Beispiel modernes Individuum: Daraus wird bei ihnen (wieder) eine ethische bzw. religiöse

 

und vor allem soziale Person mit entsprechenden Bindungen und Verantwortungen in ihrer konkreten Lebenswelt.

In dieser Hinsicht steht den neuen geistlichen Bewegungen allerdings eine Bewährungsprobe ins Haus. Aus Sicht der Bewegungsforschung müssen sie zeigen, dass sie als geistliche Bewegung nie nur geistliche, sondern immer auch soziale Bewegung sind –und im Glauben eine kulturelle Gestaltungskraft nutzen. Dann sind sie selbst den neuen sozialen Bewegungen überlegen, weil sie nicht wie diese auf bestimmte Themen festgelegt sind, sondern mit Gott und der Welt eine unbegrenzte Reichweite haben. Das Miteinander der geistlichen Bewegungen und ihrer Kirchen ist dabei entscheidend: Nur eine versöhnte Kirche kann einen glaubwürdigen Beitrag zur Versöhnung leisten. Allerdings wird ein „Miteinander für Europa“ bei einer Versöhnung mit der Zukunft nicht reichen; ein Miteinander für die ganze Welt von morgen ist gefragt. Alles andere wäre für globale Bewegungen wie die Fokolare, Sant’Egidio oder Schönstatt und viele andere auch weit unterhalb ihres Selbstverständnisses.

Ein Schlusswort: Hat die Hoffnung eine Zukunft? Ich habe Ihnen diese Frage vorgelegt, weil ich davon überzeugt bin, dass Sie die Antwort sind. Sie werden bei der Versöhnung mit der Zukunft gebraucht. Das heißt aber auch, dass Sie als geistliche Bewegungen kein Selbstzweck sind. Wo sie sich zu ihrer kulturellen Gestaltungskraft bekennen, machen Sie deutlich, dass es zur aktuellen Krise eine Alternative, ja ein Morgen gibt. Sie zeigen damit eigentlich, dass neue geistliche Bewegungen aus der Zukunft geboren sind und deshalb auf die Versöhnung mit der Zukunft abzielen!

Europa und die Angst

Herbert Lauenroth hielt beim Kongress von „Miteinander für Europa“ ein Statement zu einer heiklen Frage. Hier sein Text, den ich von der Homepage vom „Miteinander für Europa“ genommen habe.

EUROPA IM „ZEITALTER DER ANGST“

Liebe Freunde!

Beginnen möchte ich meine – eher grundsätzlich gehaltenen – Überlegungen zum Thema der Angst, der Angst in Europa mit zwei eindringlichen Bildern biblischer bzw. säkularer Prägung:

 (1) Im Buch Genesis ruft Gott nach dem Menschen – in einem dramatischen Augenblick: „Wo bist Du, Adam?“ – Der Ruf geht an den, der sich – schamerfüllt und angstgetrieben – in das Unterholz geflüchtet hat, der sich vor dem Anblick Gottes verbirgt, weil er sich seiner existenziellen Nacktheit und Armseligkeit bewusst geworden ist. Das Bild beschreibt unsere gegenwärtige Situation in Europa recht drastisch: Unser Kontinent verbarrikadiert sich, verschanzt sich in seiner ausweglos erscheinenden Gegenwart. 

Europa steckt also in diesem Unterholz, diesen Verstrickungen in die eigenen Begrenzungen und Schuldgeschichten. Dieses Unterholz ist Idomeni, die mazedonische Grenze, der stacheldrahtbewehrte Zaun an der ungarisch-serbischen Grenze, es steht aber auch für die vielfältigen Aus-Grenzungen in unserer Gesellschaft.   

Liest man nun das biblische Szenarium im Blick auf den Ausbau Europas zur „Festung“ – als Maßnahme gegen die Migranten, dann gewinnt das Bild noch einmal eine andere Lesart: Dann steht hier nämlich der europäische Souverän vor uns: als der eigentlich Unbehauste, Heimatlose, Flüchtende, der auf der fatalsten aller Fluchten ist: der vor sich selbst.

Europa muss also neu diesen Anruf des biblischen Gottes vernehmen: als Frage nach der Bestimmung, der Sendung und Verantwortung für sich und die Welt: „Adam/Europa, wo bist Du?“    

(2) Dieses Bild einer existenziellen Enge, aus der Gott herausruft, findet seine Entsprechung in den Visionen einer kosmischen Verlorenheit des Menschen in einem indifferenten, ungastlichen Universum. Dem hat der Philosoph und Mathematiker Blaise Pascal Ausdruck verliehen: „Das ewige Schweigen dieser unendlichen Räume macht mich schaudern!“.  Es geht hier um ein Entsetzt- oder Ausgesetzt-Sein, das den auf sich zurückgeworfenen, isolierten Menschen ängstigt – und leitmotivisch in der Geschichte Europas als „Verlust der Mitte“ oder „metaphysische Obdachlosigkeit“ beschrieben worden ist. 

(3) Diese Angst vor Selbst- und Weltverlust kann aber zugleich auch einen neuen Erfahrungs-Raum erschließen: 

* Der tschechische Dichter und Staatspräsident Vaclav Havel hat seinerzeit – im Rückblick auf die friedlichen Revolutionen in Ostmitteleuropa in den Jahren 1989/90 – von der ANGST als „ANGST VOR DER FREIHEIT“ gesprochen:

Wir waren wie Gefangene, die sich an das Gefängnis gewöhnt hatten, und dann, aus heiterem Himmel in die ersehnte Freiheit entlassen, nicht wussten, wie sie mit ihr umgehen sollten und verzweifelt waren, weil sie sich ständig selbst entscheiden und Verantwortung für ihr eigenes Leben übernehmen mussten. 

Es gilt, so Havel, sich dieser Angst zu stellen. Denn so kann sie in uns schließlich auch neue Fähigkeiten wecken: Angst vor der Freiheit kann genau das sein, was uns schließlich lehrt, unsere Freiheit wirklich richtig auszufüllen. Und Angst vor der Zukunft kann genau das sein, was uns zwingt, alles dafür zu tun, dass die Zukunft besser wird.       

* Der große protestantische Theologe Paul Tillich schließlich verortet die Angst als grundlegende Erfahrung menschlicher Existenz:  Der Mut zum Sein, schreibt er, wurzelt in dem Gott, der erscheint, wenn Gott in der Angst des Zweifels verschwunden ist.  

Das bedeutet: Erst die Erfahrung der Angst – als Verlust eines vormals prägenden und für unveränderlich gehaltenen Gottes-, Menschen und Welt-Bildes – setzt das frei, was hier „Mut zum Sein“ genannt wird. Der wahre – göttliche – Gott erscheint gewissermaßen im Herzen der Angst, und Er allein bewirkt Ent-Ängstigung. Und diese Erfahrung wiederum führt den Menschen zu den tieferen Erfahrungshorizonten des Seins. Gott offenbart sich in der vermeintlichen Gesichts- und Geschichtslosigkeit der Welt als Antlitz des Anderen.

(4) Es gilt also, in diese „Weltinnenräume“ biografischer wie kollektiver Ängste und Verlust-erfahrungen hinabzusteigen, um dort jenem Gott zu begegnen, der uns rettet. Zwei Beispiele: 

(4.1) Yad Vashem: Mein Besuch im vergangenen Herbst in der Erinnerungsstätte an die Shoah ist mir unvergeßlich: Ich gehe wie benommen durch diese labyrinthisch anmutende Architektur und gelange schließlich zum „Denkmal für Kinder“, einem unterirdisch angelegten Raum, in dem das Licht brennender Kerzen durch Spiegel reflektiert wird. In diesem dunklen Resonanzraum körperloser Stimmen, die unablässig die elementaren Lebens-Daten der unschuldigen Opfer in Erinnerung rufen, empfinde ich eine neue, tiefe Solidarität  – gerade im Blick auf diese tiefsitzende Ur-Angst, nicht nur physisch vernichtet, sondern überhaupt aus dem kulturellen Gedächtnis gelöscht zu werden. Das Zeugnis dieses Ortes wird mir zur eigenen Erfahrung: Dem verlorenen Namen einen Ort geben, dem Namen Gottes und seiner Geschöpfe eine Erinnerung bewahren. Mein Eintrag ins Gästebuch ist ein Satz des Propheten Jesaja und bringt sowohl meine Verstörung als auch die neue Hoffnung auf die unverlierbare Nähe eines väterlichen Gottes zum Ausdruck: „Fürchte Dich nicht, denn ich habe Dich erlöst. Ich habe Dich mit Deinem Namen gerufen, Du bist mein!“

(4.2) Und im Blick auf die Großen europäischen Erzählungen der Angst beschreibt der tschechische Philosoph und Theologe Tomás Hálik eine ähnliche Erfahrung: 

„Das kühne Projekt der europäischen Einheit errichten wir nicht auf unbekanntem Boden oder Brachland. Wir bauen es auf einem Boden, in dessen Schichten vergessene Schätze und verbrannte Trümmer lagern, wo Götter, Helden und Verbrecher begraben sind, verrostete Gedanken und nicht explodierte Bomben liegen. Wir müssen uns von Zeit zu Zeit aufmachen und in die Tiefen Europas blicken, in die Unterwelt, wie Orpheus zu Eurydike oder der getötete Christus zu Abraham und den Vätern aus dem Alten Testament.“ 

(5) Für mich bündeln sich diese verschiedenen „Abstiege in die Abgründe der Angst“ in der Schilderung der Taufe Jesu bei Matthäus: 

„Als aber Jesus getauft war, stieg er sogleich aus dem Wasser herauf; und siehe, die Himmel wurden ihm aufgetan, und er sah den Geist Gottes wie eine Taube herniederfahren und auf ihn kommen. Und siehe, eine Stimme ergeht aus den Himmeln, die spricht: Dieser ist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen gefunden habe.“   

Mit Christus absteigen, um an jenen Nullpunkt zu gelangen, über dem sich dann ganz überraschend der Himmel öffnet. Und hier zeigt sich Gottes Lebensgesetz: „Was von oben kommt, muss von unten wachsen.“  

So entsteht in, mit und durch Jesus jene „geschwisterlich“ geprägte Solidargemeinschaft, in der sich die einzelnen nicht nur als „Schwestern und Brüder“, sondern auch als „Söhne und Töchter Gottes“ erkennen, in der also „Menschenwürde“ und „Gottebenbildlichkeit“ eine untrennbare Einheit bilden. 

 (6) In seinen Aufzeichnungen aus der Haft „Widerstand und Ergebung“ sieht Dietrich Bonhoeffer den Kern der christlichen Identität als Antwort an die Anfrage Jesu im Moment seiner Todesangst in Gethsemane: „Könnt Ihr nicht eine Stunde mit mir wachen?“ –   Es ist die Einladung zur Nachtwache an der Seite Jesu, seiner dem Vater zugewandten Gegenwart in einer säkularen  – vermeintlich gott-losen – Welt, und diese Gegenwart Jesu verwandelt unterschiedlichste Orte in Erfahrungs- und Erwartungs-Räume trinitarischen Lebens. 

(7) Die „Angst“ erscheint in dieser Schlüsselstelle des Lukas-Evangeliums als privilegierter Lernort des Glaubens, an dem sich unsere diffusen, „blinden“ Ängste, bündeln und zur authentischen und erkenntnisstiftenden „Gottes-Furcht“ Jesu wandeln. 

Denn:

In, mit, durch Jesus: ereignet sich die Ent- als echte Durch-Ängstigung des Menschen auf Gott hin: Die vermeintliche Preisgabe des Sohnes wandelt sich zur Hingabe an den Vater. 

Einheit wächst als Erfahrung wechselseitigen Vertrauens aus der Sensibilität für das unverfügbare Geheimnis Gottes, der Alterität des anderen; die jüdische Philosophin Simone Weil hat für diese Erfahrung eine markante Formulierung gefunden: erst das vorbehaltlose „Einwilligen in die Distanz des anderen“  – so die franz. Philosophin Simone Weil – ermöglicht authentische Nähe und Gemeinschaft mit Gott und den Menschen. 

Und also geht es darum: Das Unbekannte, Fremde, Randständige bevorzugen –  als „Lernort“ des Glaubens – in, mit, durch Jesus.

Das gilt gerade auch für die verschiedenen Charismen und die Gemeinschaft unter ihnen: Bei einer Begegnung des „MfE“ im November 2013 mit Jean Vanier, dem Gründer der „Arche“, in Paris wurde uns deutlich: Eigentlich besteht die Aufgabe der Charismen auch darin, das „Charisma der Welt“ zu empfangen und eben dieser Welt zu spiegeln; Vaniers Zeugnis hat uns sehr beeindruckt: nicht in erster Linie mit und für die „Adressaten“ der Seligpreisungen Jesu zu leben, sondern von ihnen her. Sie, die vermeintlich Bedürftigen und Empfangenden, sind die eigentlich Gott-Begabten und Gebenden, die Träger einer Botschaft, einer Gegen¬wart Gottes, die von den Rändern wieder in die Mitte unserer Gesellschaften gelangen muss.  Der Aachener Bischof und Religionsphilosoph Klaus Hemmerle formulierte prägnant: „Lass mich an Dir die Botschaft lernen, die ich Dir zu überbringen habe“.   
(8) Diese Haltung aber verlangt eine „Schubumkehr“, eine echte Metánoia im Selbst- und Weltverständnis so mancher Christen, einen neuen Glauben an die in Christus geoffenbarte Liebe Gottes zur Welt.

Dabei gilt es, immer mehr in eine „Kultur des Vertrauens“, ja eines eben auch welthaften Gott-Vertrauens hineinzuwachsen, das in Jesus grundgelegt ist.

(9) Der Blick hinauf in die Kuppel des Zirkus-Krone-Bau lässt uns vielleicht an die Trapezkünstler denken – für mich die wahren Artisten der Ent-Ängstigung: immer im Wagnis des Vertrauens, des Loslassens und sich erneut Ausstreckens im Raum des Zukünftigen, als „Springer in der Schwebe“ (H.Nouwen). Artistischer Augen-Blick in jenem prophetischen und immer auch prekären, riskanten Zwischen von „Gnade und Schwerkraft“: als Anmut des Schwere-Losen, in der sich das Geschöpf doch immer gehalten und unterfangen, in gewisser Weise von sich „erlöst“ und zum anderen hin befreit weiß: 

„Ein Springer muss springen, und ein Fänger muss fangen, und der Springer muss mit ausgetreckten Armen und offenen Händen darauf vertrauen, dass der Fänger da sein wird. … Denke daran, dass du Gottes geliebtes Kind bist. Er wird da sein, wenn Du Deinen langen Sprung machst. Versuche nicht, nach ihm zu greifen. Er wird nach Dir greifen. Strecke einfach Deine Arme und Hände aus – und vertraue, vertraue, vertraue!“