Geschwisterlichkeit – weltweit

Papst Franziskus hat gestern am Grab des hl. Franz von Assisi seine dritte Enzyklika unterzeichnet, die heute Mittag der Öffentlichkeit präsentiert wurde.

Nach einer ersten Lektüre habe ich mir folgende Zusammenfassung niedergeschrieben:

Unser Papst ist in seinen Schriften und nicht nur durch seinen Namen dem heiligen Franz von Assisi sehr verbunden. Es ist auch kein „Zufall“, dass er am Tag des Heimgangs des poverello, dem 3. Oktober, seine neueste Enzyklika unterschrieben hat. Wie „laudato sí“ wird auch diese Enzyklika über die Geschwisterlichkeit und die soziale Freundschaft mit einem Zitat des Heiligen eröffnet, das der Papst dessen Ratschlägen entnommen hat. Allen Brüdern und Schwestern – weil alle Kinder Gottes sind – legt der Heilige nahe, die Menschen zu lieben, auch wenn sie weit entfernt leben. – In Demut will der Papst dieses Lehrschreiben verstehen als Gesprächsbeitrag zu einer Kultur der Geschwisterlichkeit unter allen Menschen so wie eben Franz von Assisi beim Sultan seinerzeit auch nicht Wortgefechte geführt, sondern ihm die Liebe Gottes – vgl. 1Joh 4,16 – mitgeteilt hat. Angeregt durch seinen Besuch beim Großimam in Abu Dhabi 2019 begann Papst Franziskus seine Gedanken niederzuschreiben, die er zum einen nicht als Lehre umfassende Lehre über die geschwisterliche Liebe verstanden wissen will und die zum anderen durch die Pandemie an Notwendigkeit deutlich gewonnen hat, wurden doch damit viele unserer falschen Sicherheiten offengelegt: „Ich habe den großen Wunsch, dass wir in dieser Zeit, die uns zum Leben gegeben ist, die Würde jedes Menschen anerkennen und bei allen ein weltweites Streben nach Geschwisterlichkeit zum Leben erwecken.“ (8)

Schonungslos benennt er daher im 1. Kapitel seiner Enzyklika „fratelli tutti“ einige Wahrnehmungen, die einer universalen Geschwisterlichkeit im Weg stehen: neu aufbrechende Egoismen und Nationalismen, Reduktion eines wirklichen Miteinanders auf wirtschaftliche Vernetzung und damit eine neue Einsamkeit der Menschen, die auch „geschichtslos“ in die Zukunft ausblicken. Dies werde wiederum durch Populismen mit Verdächtigungen etc. verschärft: „Ein Plan mit großen Zielen für die Entwicklung der Menschheit klingt heute wie eine Verrücktheit.“ (16) Menschen laufen daher Gefahr nicht mehr in ihrer Würde gesehen sondern lediglich als Mittel zum Zweck benutzt zu werden. Sichtbar wurde dies auch durch die Pandemie, indem etwa in so manchen Ländern das Sterben weggesperrt und damit Menschen selbst in dieser entscheidenden Stunde gleichsam „weggeworfen“ wurden; Rassismus oder auch der Umgang mit Arbeitslosigkeit sind weitere Anzeichen für den Papst wie des Menschen Würde zerstückelt wird: Wirtschaft hat der Gesamtentwicklung des Menschen zu dienen! (21) Ja: es fehlen die Horizonte, die uns zur Einheit führen (26), weil wir selbst vereinzelt sind: „Von Neuem erscheint »die Versuchung, eine Kultur der Mauern zu errichten, Mauern hochzuziehen, Mauern im Herzen, Mauern auf der Erde, um diese Begegnung mit anderen Kulturen, mit anderen Menschen zu verhindern. Und wer eine Mauer errichtet, wer eine Mauer baut, wird am Ende zum Sklaven innerhalb der Mauern, die er errichtet hat, ohne Horizonte. Weil ihm dieses Anderssein fehlt«“ (27) – all das gleicht einem „Schisma“ zwischen den Einzelnen und der Gesellschaft um ihn herum. Auch in Fragen rund um die Migration sind solche Schemata offenkundig. „Während verschlossene und intolerante Haltungen, die uns vor den anderen abschotten, zunehmen, verringert sich oder verschwindet paradoxerweise die Distanz bis hin zur Aufgabe des Rechts auf Privatsphäre“ (42): digitale Medien können auch die vermeintliche Offenheit hin zum Ganzen vorgaukeln, während der Mensch im Individualismus verhaftet bleibt und Gefahr läuft sich gegenüber anderen zu erheben – Hass im Netz und entsprechende „Blasen-„Aggressionen machen vor niemandem Halt: „Wir müssen zugeben, dass der Fanatismus, der zur Zerstörung anderer führen kann, auch von religiösen Menschen – Christen nicht ausgeschlossen – verübt wird“ (46). Dem kann aber wahre Begegnung abhelfen (48), wozu aber ein Aufschauen aus dem Kreisen um sich selbst notwendig ist: „Wir können gemeinsam die Wahrheit im Dialog suchen, im ruhigen Gespräch oder in der leidenschaftlichen Diskussion.“ (50) – Was für den Einzelnen gilt ist auch für Gesellschaften ähnlich, die in Gefahr stehen, sich auch nicht entsprechend entwickeln zu können, sondern von einzelnen in ihnen bzw. unter den Staaten „oben“ und „unten“ vertieft werden, „reich“ und „arm“ noch weiter sich voneinander entfernen.
All diese Entwicklungen wurden durch die weltweite COVID-19-Krise aufgedeckt: „wir haben uns mit Connections vollgestopft und darüber den Geschmack an der Geschwisterlichkeit verloren […] Der Schmerz, die Unsicherheit, die Furcht und das Bewusstsein der eigenen Grenzen, welche die Pandemie hervorgerufen haben, appellieren an uns, unsere Lebensstile, unsere Beziehungen, die Organisation unserer Gesellschaft und vor allem den Sinn unserer Existenz zu überdenken.“ (33). „Gott gebe es, dass es am Ende nicht mehr „die Anderen“, sondern nur ein „Wir“ gibt.“ (35) Genau das aber ist für Papst Franziskus auch ein Ansatz, in dem Hoffnung sichtbar und deutlich wird, die er in den folgenden Kapiteln aufzuschlüsseln gedenkt.

Wie wir es mittlerweile von ihm schon gewohnt sind stellt der Papst nach einer Wahrnehmung der Welt wie sich eben darbietet eine Betrachtung über eine Bibelstelle allem anderen voran. So macht er je neu deutlich, dass Glauben eben Leben aus einer Quelle bedeutet, die das sichere Fundament ist. Im 2. Kapitel seiner Enzyklika stellt er das vielen – wohl auch Nichtchristen – bekannte Gleichnis vom Barmherzigen Samariter (Lk 10,25-37) in die Geschichte des Bundes Gottes mit seinem Volk, das zur Erkenntnis der Nächstenliebe in der auch uns bekannten Form wohl auch ob seiner leidvollen Geschichte und des damit verbundenen Exodus aus Ägypten gekommen ist. Franziskus greift dabei u.a. auf die jesuitische Praxis der Bibellektüre zurück und lädt die Lesenden ein sich in selbst in die Handelnden der Erzählung zu versetzen: „Wer bin ich in dieser Bibelstelle?“ Kurz beschreibt er die Räuber, die – religiösen – Menschen, die vorübergehen, den Mann aus Samarien und auf den Verletzten: „»in der globalisierten Gesellschaft gibt es einen eleganten Stil, sich abzuwenden, der gegenwärtig praktiziert wird: Unter dem Deckmantel der politischen Korrektheit oder ideologischer Modeerscheinungen schaut man auf den Leidenden, ohne ihn zu berühren; er wird live im Fernsehen übertragen. Es wird sogar eine scheinbar tolerante Sprache voller Euphemismen benutzt«.“ (76) „Dieses Gleichnis ist ein aufschlussreiches Bild, das fähig ist, die grundlegende Option hervorzuheben, die wir wählen müssen, um diese Welt, an der wir leiden, neu zu erbauen“ (67): es zeigt Menschen, die eben nicht vorübergehen, die das Zerbrechliche, den Rand sehen und annehmen und mit Liebe erfüllen und damit an einer menschenwürdigen Gesellschaft bauen, in der alle Platz haben. Daher gilt es: „Suchen wir die anderen, und nehmen wir die uns aufgetragene Wirklichkeit in die Hand, ohne Angst vor Schmerz oder Unvermögen, denn dort liegt all das Gute verborgen, das Gott in das Herz des Menschen gesät hat.“ (78) Es gilt eben, zum Nächsten zu werden!

Liebe ist jene Lebenshaltung, die uns dabei hilft – im 3. Kapitel lenkt Papst Franziskus unsere Blicke darauf, wie eine „offene Welt“ zu schaffen ist und zitiert hierbei u.a. den heiligen Papst Johannes Paul II.: „Der Liebende tritt heraus aus seinem Selbst, um eine vollere Existenz in einem anderen zu finden.“ (88) – „Perversionen“ falsch verstandener Liebe sind, so Franziskus, mitunter auch solchen Menschen nicht fern, die sich gläubig nennen und von „Liebe“ bloß sprechen, damit aber eine in sich geschlossene Ideologie meinen (92); auch in und zwischen Gesellschaften und Staaten können sich ähnlich gelagerte Phänomene ereignen, die eben Liebe in diesem Sinn nicht entsprechen: so mancher Mensch ist „existentiell“ am Rand – weil behindert, weil anderer Hautfarbe u.ä.m. – Erst wenn der Mensch liebt kann Geschwisterlichkeit wachsen, denn: „Der Individualismus macht uns nicht freier, gleicher oder brüderlicher. Die bloße Summe von Einzelinteressen ist nicht in der Lage, eine bessere Welt für die gesamte Menschheit zu schaffen.“ (105) Daher: aus Liebe und in Liebe gilt es, jedem Menschen in der Welt, egal wo er wohnt und lebt, ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Dies gilt es zu wollen – in der Sorge um unser gemeinsames Haus, das unsere Welt ist! Einem solchen Lebensstil sollen auch die wirtschaftlichen Mechanismen dienen. Denn es gibt „Grundrechte, die »jeder Gesellschaft vorausgehen, weil sie sich aus der Würde ableiten, die jedem Menschen zukommt, weil er ein Geschöpf Gottes ist«“ (124). Freilich: damit muss die Begegnung und der Austausch unter den Nationen und Ländern vielfach anders als derzeit gelebt geführt werden. „Wenn jeder Mensch eine unveräußerliche Würde hat, wenn jeder Mensch mein Bruder oder meine Schwester ist, und wenn die Welt wirklich allen gehört, ist es egal, ob jemand hier geboren wurde oder außerhalb der Grenzen seines eigenen Landes lebt.“ (125) Nur, wenn wirklich diese vor-gegebene Beziehung zwischen allen anerkannt und entsprechend gelebt wird, wird wirklicher und dauerhafter Friede möglich.

So gilt es „ein offenes Herz für die ganze Welt“ zu leben, wie das 4. Kapitel überschrieben ist. Papst Franziskus widmet sich eingangs verschiedenen Aspekten von Migration und den damit zusammenhängenden Herausforderungen, da die Gründe sich aus der angestammten Heimat auf den Weg zu machen unterschiedlicher Natur sind: „aufnehmen, schützen, fördern und integrieren“ bezeichnet er als die vier Verben, die es zu leben gilt, solange es Situationen in der Welt gibt, die die volle Verwirklichung des Personseins einzelner nicht ermöglichen. Dies aber ist nicht für einzelne Staaten allein zu schultern, sondern braucht das Engagement in Gemeinschaft und damit der wirklichen Begegnung, damit sich etwa Kulturen gegenseitig bereichern. Dieser Gedanken der Gegenseitigkeit wird von Papst Franziskus danach weiter und allgemeiner entfaltet: es gilt, dies zu leben, auch wenn es zunächst keinen unmittelbaren Nutzen für den Helfenden aus einem solchen Lebensstil geben sollte: „Wie es um die verschiedenen Länder der Welt wirklich bestellt ist, lässt sich an dieser Fähigkeit abmessen, nicht nur an das eigene Land, sondern an die ganze Menschheitsfamilie zu denken, und das wird besonders in kritischen Zeiten offenbar.“ (141) Um nicht in simples „entweder“ – „oder“ zu verfallen ergänzt unser Papst: „die universale Geschwisterlichkeit und die soziale Freundschaft im Inneren jeder Gesellschaft [sind] zwei untrennbare und gleichwichtige Pole […] So wie es ohne persönliche Identität keinen Dialog mit anderen gibt, so gibt es auch keine Offenheit zwischen den Völkern ohne die Liebe zum eigenen Land und seinen Menschen sowie zu ihren jeweiligen kulturellen Eigenheiten.“ (142f.) Nur so (!) verkommt der Gedanken des Universalen nicht zu einem Einheitsbrei, der – wie etwa im legendären Turmbau zu Babel – hypertrophe Züge angenommen hat: niemand kann sich selbst genügen. „Je weniger Weite ein Mensch in seinem Denken und Empfinden besitzt, desto weniger wird er in der Lage sein, die ihn unmittelbar umgebende Wirklichkeit zu deuten.“ (147)

„Um die Entwicklung einer weltweiten Gemeinschaft zu ermöglichen, in der eine Geschwisterlichkeit unter den die soziale Freundschaft lebenden Völkern und Nationen herrscht, braucht es die beste Politik im Dienst am wahren Gemeinwohl.“ (154) Mit diesen Worten leitet Papst Franziskus das 5. Kapitel seines Gesprächsbeitrags ein. Populismus wie auch Liberalismus leben ihre Ideen meist auf den Ärmsten und Schwächsten aus, was Papst Franziskus in einigen Artikeln danach für beide Entwicklungen differenzierend ausführt und im Vorübergehen auch noch manche linke Ideologien entlarvt. Gerade deswegen erinnert er gemeinsam seine Vorgänger zitierend daran, „dass eine »Reform sowohl der Organisation der Vereinten Nationen als auch der internationalen Wirtschafts- und Finanzgestaltung« notwendig ist, »damit dem Konzept einer Familie der Nationen reale und konkrete Form gegeben werden kann.«“ (173) Daher plädiert Franziskus für den Primat der Politik – trotz all der Misstöne in ihrer Umsetzung – vor der Wirtschaft, damit das Gemeinwohl auch für zukünftige Generationen nicht gefährdet ist. So gilt für ihn: „Es ist keine pure Utopie, jeden Menschen als Bruder oder Schwester anerkennen zu wollen und eine soziale Freundschaft zu suchen, die alle integriert. […] Es geht darum, zu einer gesellschaftlichen und politischen Ordnung zu gelangen, deren Seele die gesellschaftliche Nächstenliebe ist.“ (180) So gelebte „soziale Liebe“ ermöglicht es auf dem Pfad hin „zu einer Zivilisation der Liebe voranzuschreiten“ (182). “ Der Politiker ist tatkräftig, er ist ein Erbauer mit großen Zielen und mit realistischem und pragmatischem Weitblick auch über sein Land hinaus. Die größte Sorge eines Politikers sollte nicht das Fallen der Umfragewerte sein, sondern vielmehr, dass er keine wirksame Lösung findet, um »das Phänomen der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ausschließung mit seinen traurigen Folgen wie Menschenhandel, Handel von menschlichen Organen und Geweben, sexuelle Ausbeutung von Knaben und Mädchen, Sklavenarbeit einschließlich Prostitution, Drogen- und Waffenhandel, Terrorismus und internationale organisierte Kriminalität so schnell wie möglich zu überwinden.“ (188) Gerade Regierende wissen sich vor der Herausforderung, so zu lieben, dass eben auch Dialog „als Austausch von Angeboten zugunsten des Gemeinwohls“ gelebt wird (190).

Um soziale Freundschaft zu leben ist Dialog notwendig: um diesen Gedanken kreisen die Worte von Papst Franziskus im 6. Kapitel der neuen Enzyklika. Dialog ist aber etwas anderes als ein – mitunter hitziger – Meinungsaustausch, der eigentlich ein Anzahl von nebeneinander stattfindenden Monologen ist, wie es vielfach in den sozialen Netzwerken vorzufinden ist: „Der echte Dialog innerhalb der Gesellschaft setzt die Fähigkeit voraus, den Standpunkt des anderen zu respektieren und zu akzeptieren, dass er möglicherweise gerechtfertigte Überzeugungen oder Interessen enthält.“ (203) Gerade Medien haben es eigentlich in ihrer „DNA“, für das Vermittelnde zu sorgen, das nicht gleichzusetzen ist mit Relativismus: „In einer pluralistischen Gesellschaft ist der Dialog der beste Weg zur Anerkennung dessen, was stets bejaht und respektiert werden muss und was über einen umstandsbedingten Konsens hinausgeht.“ (211) Erneut fordert Franziskus in diesem Zusammenhang die „Kultur der Begegnung“ ein; Prozesse hierfür an- und einzuleiten sollte auf der Tagesordnung aller am gesellschaftlichen Diskurs Beteiligten stehen: „Rüsten wir unsere Kinder mit den Waffen des Dialogs aus! Lehren wir sie den guten Kampf der Begegnung!“ (217) Dies kann natürlich auch bedeuten, dass nötigenfalls etwas für das Gemeinwohl aufzugeben ist, da die „Suche nach einer falschen Toleranz [..] dem Realismus des Dialogs weichen muss, dem Realismus derer, die überzeugt sind, ihren Prinzipien treu bleiben zu müssen, gleichzeitig aber anerkennen, dass der andere ebenso das Recht hat, zu versuchen, seinen eigenen Prinzipien treu zu sein.“ (221)

Im vorletzten Kapitel seiner Enzyklika beschreibt Papst Franziskus schließlich „Wege zu einer neuen Begegnung“: „Der Weg zum Frieden bedeutet nicht, die Gesellschaft homogen zu machen, sondern zusammenzuarbeiten“ (228), woraus deutlich wird, dass er eigentlich nicht nur „Vertrag“ ist, sondern andauernde Veränderung im eigenen Menschsein, wobei fehlende ganzheitliche Entwicklung des Menschen Friedensbildung verunmöglicht: „Wenn es um einen Neuanfang geht, müssen wir immer bei den Geringsten unserer Brüder und Schwestern beginnen“ (235). Dass hierbei Vergebung und Versöhnung notwendige Motoren sind, den Weg voranzutreiben ist alles andere als ein Zeichen von Schwäche, also Konflikte sind – entsprechend gelebt – unvermeidlich, auch weil „Achtung vor anderen Menschen [..] nicht dazu führen [darf], um des vermeintlichen Friedens in Familie und Gesellschaft willen sich selbst untreu zu werden.“ (240) „Wahre Versöhnung aber geht dem Konflikt nicht aus dem Weg, sondern wird im Konflikt erreicht, wenn man ihn durch Dialog und transparente, aufrichtige und geduldige Verhandlungen löst.“ (244) Denn: „Die Einheit steht über dem Konflikt. […] Es geht nicht darum, für einen Synkretismus einzutreten, und auch nicht darum, den einen im anderen zu absorbieren, sondern es geht um eine Lösung auf einer höheren Ebene, welche die wertvollen innewohnenden Möglichkeiten und die Polaritäten im Streit beibehält“ (245). Auch bedeutet Vergeben nicht zu vergessen: Franziskus erinnert im Vorübergehen an die Verbrechen der Schoah, die Atombombenabwürfe, an Sklavenhandel und ethnische Säuberungen usw. Und er geht auch kurz auf die Extremsituationen von [auch vermeintlich „gerechtem“] Krieg und Todesstrafe ein.

Schließlich erinnert Papst Franziskus im 8. Kapitel der Enzyklika „Fratelli tutti“ an den Beitrag der Religionen an der Geschwisterlichkeit in der Welt: „Der Dialog zwischen Menschen verschiedener Religionen findet nicht nur aus Diplomatie, Freundlichkeit oder Toleranz statt. […] Als Gläubige sind wir davon überzeugt, dass es ohne eine Offenheit gegenüber dem Vater aller keine soliden und beständigen Gründe für den Aufruf zur Geschwisterlichkeit geben kann.“ (271f.) Wird nämlich der Mensch ohne seine transzendente Dimension gesehen wird manches im Dialog ausgeblendet, die aber Voraussetzung stiftet für einen Dialog auf Augenhöhe. Gerade deswegen kann und darf Kirche sich nicht auf das Private zurückziehen, weil sie eben den Menschen in seiner Ganzheit sieht: „Für uns [als Kirche – im Unterschied zu anderen Religionen] liegt die Quelle der Menschenwürde und Geschwisterlichkeit im Evangelium Jesu Christi. Aus diesem »entspringt für das christliche Denken und für das Handeln der Kirche der Primat, der der Beziehung vorbehalten wird: der Begegnung mit dem heiligen Geheimnis des anderen und der universalen Gemeinschaft mit der ganzen Menschheit als Berufung aller«“ (277). Die Forderung nach Religionsfreiheit hat genau darin ihren Ursprung; sie wird die Kirche nicht müde für alle Menschen einzumahnen. Für das Miteinander und daher auch den Frieden zwischen den Religionen ist jener Blick Gottes nötig, der einer des Herzens ist: „Die Wahrheit ist, dass Gewalt keinerlei Grundlage in den fundamentalen religiösen Überzeugungen findet, sondern nur in deren Verformungen“ (282), wodurch u.a. deutlich wird, dass Terrorakte „im Namen Gottes“ Religion instrumentalisieren. Deswegen schließt die Enzyklika mit Ausschnitten aus der Begegnung von Papst Franziskus in Abu Dhabi 2019 mit Großimam Al-Tayyib und dem dort formulierten Aufruf für Frieden, Gerechtigkeit und Geschwisterlichkeit[1], Erinnerungen an Inspiratoren für seine Gedanken wie etwa dem hl. Franz von Assisi, Martin Luther King, Desmond Tutu, Mahatma Gandhi und andere wie auch Charles de Foucauld: „Seine Vision einer Ganzhingabe an Gott fand ihre Verwirklichung [..] in seiner Identifikation mit den Geringsten und Verlassenen in den Weiten der afrikanischen Wüste […] Er wollte letztendlich »der Bruder aller« sein“ (287). Ein Gebet zum Schöpfer und ein ökumenisches Gebet beschließen die ausführlichen Gedanken des Papstes.

[1] vgl. https://www.katholisch.at/aktuelles/124519/wortlaut-die-bruederlichkeit-aller-menschen.