Hoffnung – wider alle Hoffnung?

Es waren intensive und tief gehende Eindrücke, die ich in den vergangenen Tagen mit Mitarbeitenden von DKA, kfbÖ und Horizont3000 hier in Guatemala machen durfte. Manches habe ich ohnedies kurz in meinem blog der vergangenen Tage schon niedergeschrieben oder auch in meinen Veröffentlichungen auf facebook versucht zu beschreiben.

Hier möchte ich heute die Chance nutzen, manche Gedanken, die ich mir so in den letzten Tagen gemacht habe zu Fragestellungen, die wir in den Begegnungen hatten oder auch in der Zeit im Auto erörterten, was Kirche und Entwicklung von Guatemala anlangt, niederzuschreiben.

Zweifellos genießt die Kirche bei den Guatemalteken großes Ansehen, auch und gerade deswegen, weil sie – gerade in den Jahrzehnten der gewaltsamen Auseinandersetzungen ab den 60iger-Jahren des vergangenen Jahrhunderts bis zu den Friedensschlüssen Mitte der 90iger-Jahre viel mit dem Volk gelebt hat. Zweifellos könnte das auch – kurzsichtig – als eine Art „Wiedergutmachung“ für so manches erlittene Leid der indigenen Bevölkerung seit der Eroberung Zentralamerikas verstanden werden. So einfach kann man es sich aber nicht machen, auch wenn es verlockend wäre …

  • Mit dem Volk gehen ist also für die Kirche angesagt – und dieses Volk besteht zu einem Gutteil aus der indigenen Bevölkerung, die nach wie vor alles andere als wohlgelitten ist in der Gesellschaft, die eher am Rand – wenn überhaupt – wahrgenommen wird und daher auch von vielen „normalen“ gesellschaftlichen Fragestellungen eigentlich ausgeschlossen ist.
    Eh klar, wie es scheint – aber das „mit dem Volk gehen“ – wie heißt es zu Beginn des zweiten Teils unseres Zukunftsbilds? – ist alles andere als selbstverständlich, auch innerhalb der Bischofskonferenz scheint dies nicht „gegessen“ zu sein – jedenfalls bei manchen. Die Bischöfe, denen wir begegnet sind, war aber klar: es geht nicht anders. Und gerade deswegen gilt es Jugendpastoral – also den ganzen Menschen im Blick zu haben – anzupacken und nicht bloß ihn zu katechetisieren.
    Ist all dies aber nicht gerade angesichts der Erfahrungen der kriegerischen Auseinandersetzungen nach und nach erst im Volk aufzuarbeiten, ist nicht die Sprachlosigkeit über die Vorgänge mehrerer Jahrzehnte am Ende des vergangenen Jahrhunderts nach wie vor groß? Und: wurde das nicht immer und immer wieder von denen, denen wir hier begegnet sind, auf die eine oder andere Weise deutlich gemacht?
  • Für eine so verstandene Kirche ist es notwendig, Jünger für die Sendung in die Welt zu schulen. Auch: eh klar – und auch im ersten Teil unseres Zukunftsbildes deutlich.
    Aber – und das muss hier sofort ergänzt werden: unsere Gesprächspartner sehen hierin eine integrale Ausbildung und nicht nur Vermittlung bestimmter „Glaubens-Überzeugungen“, denn Jesus hat geheilt und gesund gemacht und nicht nur darüber gesprochen.
    Leider werden solche Ansätze bei uns oft gleich mal mit „Befreiungstheologie“ [bewusst?] (miss-)verstanden und damit auch auf die Seite gelegt. Aber: die Rechte der Menschen sind nicht „Nebensache“, sondern „der Mensch ist der Weg der Kirche“! Und: wer soll zur Stimme der Sprachlosen werden – immerhin sind 200.000 ums Leben gekommen, mitunter auf bestialische Art und Weise, und ca. 40.000 nach wie vor vermisst, viele davon sind aber durch die penibel geführten Akten der Militärs als „vermisst“ nach wie vor anzusehen … – wenn nicht die Kirche? Und: Gottseidank meldet sie sich in Gestalt der Bischofskonferenz immer wieder zu Wort, wie meine Begleiter zu sagen wussten.
  • Evangelikale
    Parra Nova, einer der Weihbischöfe von Guatemala Ciudad, sieht in den sogenannten „Rockefeller“-Papieren die Grundlage für den Aufstieg der großteils radikalen Evangelikalen (und das begann nicht erst unter Reagan), die die „Seelen der Menschen“ – um es in einem Bild zum Ausdruck zu bringen – mit „Wellblech“ nach dem großen Erdbeben im vergangenen Jahrhundert gekauft haben. Heutzutage – so der Weihbischof – hat er Hoffnung, weil eben die Katholische Kirche wirklich mit den Menschen unterwegs ist, dass sie den Zenit ihrer Ausbreitung erreicht hat. [Mit dieser Einschätzung steht er aber im krassen Gegenteil zu einer, die ich gestern in einer Zeitschrift gelesen habe: https://www.iz3w.org/zeitschrift/ausgaben/370_gefaengnisse/thannhaeuser] – ich bin gespannt darauf, wer wirklich richtig liegt … Andererseits: wenn sich Kirche wirklich auf der Seite des Volkes sieht – und nicht bloß in großen Tempeln das Heil verspricht – dann werden Menschen auch mit ihr gehen. Das bedeutet unter anderem eben aber auch, ganz bewusst bis an die Grenzen zu gehen [also auch in die entlegenen Gegenden und Dörfer] und sich nicht auf die Sakristeien in den Kirchen der Städte und damit die „bloße“ Glaubensbildung zurückzuziehen. Das bedeutet, Phil 2 lässt grüßen, zu dienen, Menschen auf zu helfen aus ihrer Sprachlosigkeit, aus ihrer Unterdrückung, aus ihrer Not … – und viele Einrichtungen sehen genau hier (!) ihren Platz.
    Außerdem: europäische Ökumene ist hier alles andere als verständlich und daher keineswegs auf der Tagesordnung …
  • Hoffnung in die Jugend
    Die Jugendlichen in den Pfarren „gehen zwar nicht mehr so viel in den traditionellen Prozessionen mit“, können aber – und das ist auch und für die Zukunft der Gesellschaft wichtig – einiges aus innerem (Glaubens-)Antrieb heraus in ihr verändern. – Auch wenn hier sehr viele Anstrengungen unternommen werden, das Ergebnis ist nicht zu „berechnen“: Selbstmorde und Migration sind auch unter jenen möglich, die gelernt haben „aufzustehen“, denen aber angesichts der – sich verschlechternden (!?) – allgemeinen Situation alle Hoffnungen geschwunden sind – und damit auch der Glaube.
  • Indigine und deren Werte
    Wo wir auch immer waren: die indigene Bevölkerung mit ihren vielen Sprachen und Kulturen sind nicht zu übersehen, auch wenn dies gesellschaftlich oft geschieht. Wiederholt wurden wir auf die Frage der Inkulturation in diesen Tagen angesprochen. Und die sind gerade in der heutigen Zeit, die vielfach „westlich“ durchsetzt ist alles andere als gesichert: die Maya-Kultur bzw. dem, was davon in die Neuzeit „gerettet“ werden konnte, ohne sie zu idealisieren, trägt viele Werte in sich. Wie können diese – verbunden mit dem Christentum in die Zukunft getragen werden?
    Interessant ist hierfür für mich, dass uns diese Frage verstärkt von jenen Bischöfen gestellt wurden, die mit den Indigenen wirklich lebten und die keine Einheimischen sind, denen also, die nicht in der „Kultur des Machismo und des Rassismus“ groß geworden sind …

Und in der Gesellschaft: was ist da wahrzunehmen?

  • Die Zeit der 3 1/2 Jahrzehnte kriegerischer Auseinandersetzung zwischen Militär und Indigenen
    Gewalt und „Versöhnung“ sind angesagt, wobei dieser Prozess ein langwieriger ist, der wirklich beschritten werden muss. Eine der auch heute noch nachwirkenden Folgen der damit einhergehenden Tristesse unter den Jugendlichen – verbunden mit vielen Fragestellungen wie etwa Arbeitsmöglichkeiten – ist freilich die Frage der Migration in den „reichen Norden“ …
  • Spaltung der Gesellschaft – Gerechtigkeit
    Eine relativ kleine Schicht der Bevölkerung besitzt beinahe alles, der weitaus größere Teil muss sich mit weniger als 2 Dollar/Tag zufrieden geben. Wie kann das Nebeneinander in der Bevölkerung wirklich in ein Miteinander umgemodelt werden?
    Daher:
  • Arbeit und Bildung
    können zweifellos als Lösungsansätze angesehen werden, wobei freilich zu betonen ist, dass es auch Unternehmer bräuchte, die hier in das Land investieren und sich nicht nur das Ihre herausholen wollen – auf dem lateinamerikanischen Hintergrund hört sich eben Franziskus mit „diese Wirtschaft tötet“ anders an …
    Allerdings: die Bildung scheint nicht viele zu interessieren – die dropout-Rate ist während der „Pflichtschulzeit“ von 6 Jahren sehr hoch – und eigentlich ist auch nicht zu sagen, wieviele Kinder wirklich für die Schule eingeschrieben werden – die Bevölkerung wächst ja sehr rasch (manche rechnen nach einer Volkszählung, die gerade durchgeführt wurde – nach Jahren wieder einmal – mit mittlerweile bis zu 20 Millionen Einwohnern!). Wer nicht gebildet ist, tut sich aber weit schwerer mit zu entscheiden und sich einzubringen in das Voranbringen der Gesellschaft. Diese Erkenntnis gilt weltweit und ist bekannt, auch hier. Aber: wenn es nicht wahrgenommen und dem entsprechend umgesetzt wird?
  • Medizinische Situation
    Auch auf diesem Sektor gilt es – wie bei der Bildung – zwischen der öffentlichen Situation, die zum Himmel schreit, und der privaten zu unterscheiden, die wiederum von Verantwortungsträgern nicht wahrgenommen wird. Daher: wenn diese mit der wirklichen Realität nicht mehr in Kontakt kommen, sondern sich „alles leisten“ können – im mehrfachen Sinn des Wortes: wen wunderts, dass nichts weitergeht? Die derzeitigen Ärztestreiks drehen sich ja nicht nur um Gehälter (knapp über dem Mindestlohn), sondern schlicht und ergreifend auch um nötigen Einrichtung und Ausrüstung zumindest für die großen Spitäler. Wenn allerdings jene, die es sich leisten können, teure Privatspitäler vorziehen oder überhaupt sich nach Amerika begeben ….?!
  • politische Situation
    In vielen Debatten in diesen Tagen wurde das Thema Rechtsstaat von uns wahrgenommen: viele, viele Appellationen gibt es – zumal in den letzten Monaten – an den Verfassungsgerichtshof, der in diesen Monaten ein großes standing gegenüber den Machthabern etc. aufweist, auch weil Korruption unter den Abgeordneten und in der Regierung an der Tagesordnung steht …

Was in solchen Situationen Menschen hier hält: unsere Mitarbeiter von Horizont3000 etwa oder auch den Menschenrechtsprokurator: das Land hat – trotz oder gerade ob seiner Vulkane und Landschaft – einen großen Reiz. Die Menschen „verdienen“ es, weil es eben unsere Brüder und Schwestern im einen Leib der Kirche sind, dass sie nicht links liegen gelassen werden. Und es ist einfach notwendig, dass wir als Kirche rund um den Erdball wirklich ernst machen mit der Rede vom „einen Leib“: Leiden wir wirklich mit? Und daher auch: leben wir wirklich mit? – Jene, die ihre „neue Heimat“ hier gefunden haben – aus welchen Gründen auch immer – leben es vor: Ja es „zahlt“ sich aus für andere und mit anderen in ihrer Situation zu leben. Und wenn ich an die indigene Dorfbevölkerung denke, denen ich in dieser Woche auf mehr als 2.000 m Seehöhe begegnen durfte: das ist eben auch (!) Leben, anders als ich es mir vorstelle und anders wohl auch als ich es mir in den kühnsten Träumen zu leben erwarte, aber: Sie tragen Leben weiter. Und: sie geben Hoffnung, Vertrauen. – Habe ich es auch?