stellvertretend

Hinterher ist man meistens gescheiter. Und erst recht, wenn man aus Distanz beobachtet. Das sind zwei Gedanken, die mich dazu veranlasst haben, so manches zu notieren, das sich in den letzten Wochen ereignet hat. Ich tue dies nicht unbedingt in der Art einer zeitlichen Rückschau, sondern eher „aus dem Bauch heraus“, nach verschiedenen Themen strukturiert – und hier in unregelmäßigen Abständen. Und: ich habe kurz vor Ende der strengen Ausgangsbestimmungen meine Gedanken zu schreiben begonnen …

„Wie als Bischof den Menschen nahe sein, wenn man ihnen nicht persönlich nahe sein darf und kann?“ Diese drängende Frage beschäftigte mich von Anfang an, seit ich mich entschlossen hatte, mit Sack und Pack für eine gewisse Zeit nach Seggau zu ziehen. Eine Möglichkeit hat sich schnell angeboten: die „Kleine Zeitung“ teilte mit, dass sie bereit wäre, für die Zeit, in der es keine „öffentlichen“ Gottesdienste geben darf, Gottesdienste, denen ich vorstehe, ins Netz zu übertragen. Ohne viel nachzudenken bejahte ich. Und wieder eine Änderung in meinem gewohnten Tagesablauf: War ich es in Graz gewohnt, jeden Tag mit einer anderen Gemeinde zu feiern – einmal pro Woche im Bischofshof, die anderen Tage bei meinen Verpflichtungen auswärts oder aber in Ordensgemeinschaften bzw. Pfarren und immer auf einfache Weise – so war für mich schnell klar, dass ich mich nunmehr täglich herausgefordert wissen darf, ein deutendes Wort den Menschen mitzugeben, die gleichsam „als Kranke“ teilnehmen und für die es schon seit Jahrzehnten Gottesdienstübertragungen in den Medien gibt. Ich meinte, damit den Fernen nahe sein zu können.

Denn „social distancing“ meint lediglich anderen nicht physisch nahe sein zu können, niemals aber die sozialen Kontakte abbrechen zu lassen. Natürlich: eine Übertragung – sei sie auch noch so professionell gemacht – kann die persönliche Anwesenheit vor Ort der feiernden Gemeinde nicht ersetzen. Da ich aber ohnedies an einem Ort war, von dem ich wusste, dass es in den kommenden Wochen „mein Kloster“ sein würde, wurde stärker als bislang die Dimension der „Stellvertretung“ für mich erfahrbar. Auch wenn die Gestaltung der Messe im kleinsten, „familiären“ Kreis von einer der in Seggau lebenden Ordensfrauen mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln einfachst war: Wir feierten „mit“ unsichtbaren Menschen, die allein, krank, ein Stück weit ohne Hoffnung, zu Hause in der Familie, oder wo auch immer die Gelegenheit nutzten um über verschiedene Kanäle im Internet mit uns verbunden zu sein. Klar war für mich – etwas, was ich bislang in dieser Art nicht gemacht hatte – meine deutenden Worte der Predigt auch täglich ins Internet zu stellen.[1] Mehr Arbeit als bislang. Einige Tage später – diese Überlegung wurde an mich herangetragen – war die Idee geboren, mit den „Unbekannten“ in gewisser Weise in Dialog zu treten. Wir richteten die E-Mail-Adresse gebetsanliegen(at)graz-seckau.at ein und baten um Anliegen, die wir in der heiligen Messe oder auch in der Anbetung vor Gott hinlegen könnten. Dieser Einladung folgten beinahe täglich einige. Einmal kamen per Audio-file Bitten von Ministranten aus Leoben, die wir abschrieben und laut vortrugen – die uns zur Verfügung gestellte Technik war fix vorhanden, wir vor Ort aber waren wirklich nur jene, die dort gelebt haben. Dass wir mit und für andere feierten wurde auch dadurch zum Ausdruck gebracht, dass ich bei jeder Messe besondere Gebetsanliegen benannt habe: Berufs- und andere Gruppen wurde gedacht, die in der Krise der besonderen „Nähe“ bedürfen; samstags wurde bewusst der Verstorbenen der letzten Tage gedacht, von denen sich Menschen nur im „kleinsten Kreis“ verabschieden konnten.

Die Reaktionen waren großteils dankbare. Auch wenn es durch die einfache Gestaltung – 1 Kamera, damit auch 1 Kameraeinstellung, weil ohne Kameramann – nicht möglich war, einen „vollen Eindruck“ der Feier zu übertragen: wir feierten. Und wir blieben weitestgehend bei der Regelmäßigkeit dieser Übertragung.
Nebenbei: bei der realen mit Feier eines Gottesdienstes erlebe ich den Raum üblicherweise auch nicht aus verschiedensten Perspektiven. Und wir feierten für viele. Vor allem waren auch jene präsent, denen die reale Mitfeier von Gottesdiensten und damit Sakramenten während dieser Wochen schmerzlich unmöglich war. Gerade deswegen kann ich so manche kritische Kommentare von Wissenschaftern oder kirchlichen Mitarbeitern wirklich nur schwer nachvollziehen, die darin eine „Klerikalisierung“, eine „Priester-“ oder gar „Bischofs-Fixiertheit“ zu konstatieren meinen. Dass sich Kirche eben auch (!) liturgisch „äußert“ und wohl in der Öffentlichkeit hierüber am ehesten wahrgenommen wird [die organisierte Caritas wird eher als solche und nicht {nur} als Kirche wahrgenommen, kirchliche Bildungseinrichtungen und Krankenhäuser sowie Pflegeheime etc. sind im Bewusstsein so mancher auch nicht automatisch unter dem Bild „Kirche“  abgespeichert …].
Natürlich: jene, die gezwungen waren, vor einem Bildschirm zu sitzen und nicht real mitfeiern konnten, waren nicht „greifbar“. Und dennoch: in unseren Feiern waren sie stets präsent.
Freilich: das Zu- und Miteinander der feiernden Gemeinde, also von jenen, die in der Liturgie einen Dienst ausüben und jenen, die im Volk Gottes sitzen, knien, stehen, beten und singen, war vor Ort auf ein Minimum reduziert. Aber wir fünf beteten für alle – und so manche Nachricht, die mich erreicht hat, machte mir deutlich, wie sehr es Menschen gestärkt hat. Zumindest haben wir durch das einfache „response-Element“ der einzubringenden Bitten versucht, unter den gegebenen Umständen das Miteinander zu leben.
Schließlich: der auch des Öfteren herangetragene Einwand, dass ein Gutteil der „Zielgruppe“, also ältere Menschen, mit einer Übertragung im Internet nicht zurechtkämen, ist nicht zu entkräften. Wir jedenfalls haben versucht – auch ob der durch andere Umstände mir nunmehr aufgelegten zeitlichen Ordnung – durch unterschiedliche und doch regelmäßige Feierzeiten verschiedene Menschen zu erreichen. Die Vielfalt an Übertragungen aus anderen Gegenden der Steiermark und Österreichs – wenn ich es recht sehe auch andere Feiern, die sich alsbald auftat, erleichterten es uns, auf so manche Anfrage, ob es nicht zu einer anderen Zeit möglich wäre, positiv zu antworten: wir verwiesen auf andere uns bekannte Angebote. Darüber hinaus war es auf dem einen oder anderen übermittelten Foto berührend zu sehen, wie Kinder oder Enkel ihren älteren Familienbewohnern dabei halfen, mitzufeiern.

[1] Die Predigten sind auf der Homepage der Diözese abrufbar.