Unterschiedliche Blickwinkel

Hinterher ist man meistens gescheiter. Und erst recht, wenn man aus Distanz beobachtet. Das sind zwei Gedanken, die mich dazu veranlasst haben, so manches zu notieren, das sich in den letzten Wochen ereignet hat. Ich tue dies nicht unbedingt in der Art einer zeitlichen Rückschau, sondern eher „aus dem Bauch heraus“, nach verschiedenen Themen strukturiert – und hier in unregelmäßigen Abständen. Und: ich habe kurz vor Ende der strengen Ausgangsbestimmungen meine Gedanken zu schreiben begonnen …

Vorbemerkung: Zum Zeitpunkt der Niederschrift dieser Gedanken war noch nicht klar, wie die Novellierung der COVID-19-Lockerungsverordnung, die mit 1.5.2020 in Kraft getreten ist, für 15. Mai genau formuliert ist, was den Betrieb von Gaststätten etc. anlangt, die mit diesem Tag unter Auflagen geöffnet werden können.

Klar: jede und jeder von uns hat einen gewissen Standpunkt, von dem aus die Welt betrachtet wird – im wörtliche Sinn: es geht gar nicht anders. Daher ergeben sich auch unterschiedliche Sichtweisen auf die eine oder auch die andere Situation respektive Herausforderung. Soweit so klar – erst recht, wenn wir uns das bildlich vorstellen. Daraus folgt auch: Selbst dann, wenn das Ziel, das im Blick liegt, für alle Beobachter an ihren unterschiedlichen Positionen dasselbe ist – der Weg dorthin ist für jeden ein anderer. Daraus ergeben sich eben auch unterschiedliche Vorschläge wie zum Ziel zu gelangen ist. „Wehe“ bin ich versucht zu sagen „wenn ein Beobachter von vornherein sagt, dass nur sein Weg der rechte sei“, denn – stellen wir uns das noch einmal bildlich vor: da müssten dann alle am selben Platz stehen, also vorher schon denselben Stand-Punkt einnehmen, ganz abgesehen davon, dass dann noch Risikoabwägung, Hindernisse etc. auf dem Weg die eine oder andere Möglichkeit eröffnen könnten, zum Ziel zu gelangen.

Ideologien haben es an sich, sich absolut zu gebärden und damit andere Standpunkte und Blickwinkel nicht zuzulassen. Wirklich aufgeklärt zu sein und zu leben würde für mich heißen, daran zu glauben, dass Menschen auch auf anderen Wegen zum selben Ziel gelangen können. Nur weil sie von einem anderen Punkt aus losgehen, eine andere Richtung haben usw. ist noch lange nicht gesagt, dass sie „schlechter“, aber auch nicht, dass sie „besser“ unterwegs“ sind. – Wenn alledem einiges Wahres abzugewinnen ist: wieso „verteufle“ ich dann in Gedanken, Worten und Werken andere, die eben „anders“ unterwegs sind?
Das nämlich scheint mir in der Gesellschaft und auch – paradigmatisch – oft zwischen politischen Parteien der Fall zu sein: statt das gemeinsame Ziel vor Augen zu haben und anzuerkennen, dass andere eben einen anderen Blickwinkel einbringen, wird bei Vorschlägen anderer von vornherein gesagt, dass das alles ein Blödsinn sei etc. Damit erliegen wir dann aber auch der Gefahr, die eigenen blinden Flecken im Denken etc. nicht aufdecken zu lassen und eine größere Gesamtsicht zuzulassen.

Meines Erachtens haben wir da noch viel an Kultur zu leben und uns anzueignen. Um der Welt und unserer Gesellschaft willen! Von der Art und Weise wie über andere geurteilt, gesprochen und geschrieben wird – die „Stammtische“ sind ohnedies bekannt, diese haben sich [nicht nur Corona-bedingt] mittlerweile auf den virtuellen Raum ausgebreitet – schreit manchmal ja wirklich zu Himmel. So als ob von anderen auf keinen Fall was Gutes kommen könnte oder aus rein taktischen Gründen muss man, auch wenn der Vorschlag ein guter wäre, sagen, das ist ein Blödsinn, was da der bzw. die andere vorschlägt. Kultur des Dialogs auf allen Ebenen gesellschaftlichen Lebens ist mehr denn je gefragt.

So zu denken führt keineswegs zu Gleichmacherei, ermöglicht aber, dass andere nicht von vornherein abgekanzelt werden und damit auch – zumindest ein Stück weit – ihrer Würde beraubt werden. Es gibt nach wie vor unterschiedliche Wege, aber das Ziel ist dasselbe. Wenn es in der Gesellschaft um das „Gemeinwohl“ geht, dann ist damit eben das Ziel benannt; dass aus unterschiedlichen Blickwinkeln verschiedene Wege möglich sind, ist klar; dass wir von verschiedenen Standpunkten aus dasselbe Ziel betrachten und von diesen Punkten uns dann auf das Ziel hin aufmachen, ist auch klar. Daher würde ein Punkt dieser „neuen Kultur“ des Miteinanders eben auch bedeuten, uns gegenseitig zu vergewissern, ob wir dasselbe Ziel vor Augen haben und damit auch Wege zu respektieren und zu akzeptieren, die ich für mich nicht gehe. Hierin liegt meines Erachtens dann auch etwa eine große Aufgabe der Medien und damit des Journalismus, dies deutlich zu machen und herauszuarbeiten. Schwarz-Weiß-Malerei lässt eben die Schattierungen und erst Recht die Farbenspiele außer Acht, die das Leben von uns allen aber ausmachen. Populismus redet zwar einer – vielleicht heute eben bestehenden – Mehrheit nach dem Mund, hetzt mitunter dann aber auch von einem Standpunkt zum nächsten. Es gibt also meist kein bloßes „Entweder – oder“, sondern ein „gemeinsames Voranschreiten“ auf anderer Ebene.

Auch für uns Christen kann Ähnliches gesagt werden: wenn die Kirche etwa mit ihren Glaubenssätzen einen Weg vorgibt, dann bedeutet das nicht, dass alle genau nur auf dieser „Grat-Wanderung“ vorankommen könnten – wenn der Weg als solcher empfunden würde, sondern dass das Ziel, die Quelle des Lebens, auf diesem Weg ganz sicher erreicht werden kann. Daher ergibt sich auch für uns die Herausforderung des Lebens zur Einheit, die eben nicht unterschiedliche Standpunkte eliminiert – schauen wir uns doch mal die unterschiedlichen Charaktere der Apostel und übrigen Jüngerinnen und Jünger des Herrn an! Wenn der Herr auf dem Weg zum Ölberg um die Einheit aller betet, die durch ihr Wort [d.i. der Jünger Wort] „an mich glauben. Alle sollen eins sein: Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir bin, sollen auch sie in uns sein, damit die Welt glaubt, dass du mich gesandt hast (Joh 17,20f.) dann heißt das eben: das allen gemeinsame Ziel – Leben auf ewig bei Gott – in den Blick zu nehmen und darauf entschlossen zuzugehen. Dies nimmt nichts der Eigenheit, die jede und jeden von uns eben auszeichnet, sehr wohl aber das End-Gültige in den Blick. Dies ist ja – wenn ich an das letzte Buch der christlichen Bibel, die „Geheime Offenbarung“ denke – dass der Herr inmitten der Seinen lebt: „Er wird in ihrer Mitte wohnen und sie werden sein Volk sein; und er, Gott, wird bei ihnen sein“ (Offb 21,3). Dort wird Dia-log „leibhaftig“, weil der logos, das Wort schlechthin also – Jesus [vgl. den Beginn des Johannes-Evangeliums“ – „zwischen uns“ lebt. Diese kirchliche Kultur des Dialogs ist freilich auch noch zu lernen, sehr sogar, wenn ich nur an die Geschichte erinnere. Und: eine solche Kultur ist herausfordernd, im besten Sinn des Wortes.