Versöhnung mit der Zukunft

Und noch einmal „Miteinander für Europa“. Von der Homepage habe ich den Vortrag des bekannten Soziologen Michael Hochschild vom 1.7.2016 heruntergeladen und dokumentiere ihn.

Michael Hochschild: Über die Versöhnung mit der Zukunft

Kongress „Miteinander für Europa“ Freitag, 01.07.2016 München
Meine Damen und Herren, ich bin nach München gekommen, um Ihnen eine einfache, aber wichtige Frage vorzulegen: Hat die Hoffnung eine Zukunft? Ich stelle Ihnen diese Frage, weil ich glaube, dass Sie als Bewegungen die Antwort sind. Unabhängig davon, welche Antworten sie als einzelne Gemeinschaft geben oder bereithalten. Wie komme ich als Soziologe dazu, Ihnen so viel zuzutrauen?

Das liegt zunächst einmal nicht an ihnen, sondern an der Frage. Eigentlich heißt sie: Hat die Hoffnung eine Zukunft oder ist unsere Welt heillos in Krisen und Probleme verstrickt? Falls die Zukunft wirklich noch eine Chance bekommt, wie sollten wir sie nennen –diese neue Welt? Und braucht sie womöglich Unterstützung von gesellschaftlichen, um nicht zu sagen religiösen Gestaltungskräften?

Ich glaube, erste Antworten sind beinahe genauso einfach wie die Fragen –und führen uns auf die Bedeutung der Bewegungen:

1. Die Zukunft braucht Hoffnung, wenn wir nicht in der gegenwärtigen Dauerkrise feststecken und daran verzweifeln wollen.

2. Die Zukunft braucht jedoch nicht nur viel Hoffnung, sondern die erhoffte Welt auch einen anderen Namen als den der Moderne, weil das Und-so-weiter der modernen Gesellschaft empfindlich gestört ist und wir an mannigfachen Orientierungskrisen leiden. Wenn die Zukunft anders werden soll, dann steht am Ende einer Entwicklung zum Besseren die so genannte postmoderne Gesellschaft.

3. Ob es am Ende auf eine bessere Wirklichkeit hinausläuft, hängt nicht zuletzt von entsprechend frischen kulturellen Gestaltungskräften ab. Hier kommt der Beitrag von neuen geistlichen Bewegungen und auch von neuen sozialen Bewegungen zur Geltung: Sie zielen mit ihren hohen Idealen immer schon auf ein Morgen und nehmen deshalb einen Teil dieses Gesellschafts- wie Kirchenprogramms an sich schon vorweg. Kurzum: Sie zeigen schon heute, wie es morgen anders gehen könnte!

Der Weg zu einer Versöhnung mit der Zukunft könnte also ganz einfach sein. Gerade für Bewegungen. Aber wie so oft, ist es in der Wirklichkeit doch etwas schwieriger als man denkt.

Das liegt im Wesentlichen an zwei Herausforderungen: Zum einen an der Natur unserer gegenwärtigen Probleme. Wir stecken in einer tiefen Systemkrise der modernen Gesellschaft; jetzt reicht es nicht mehr, sich an die neuen Umstände ständig neu anzupassen –ein grundlegender Wandel unserer modernen Zivilisation hat eingesetzt und abverlangt von uns ein neues Denken und Handeln! Die zweite Herausforderung liegt in den neuen geistlichen Bewegungen selbst: Ihr Glaube, ihr Engagement und besonders ihre Zuversicht sind auf dem Weg aus der Krise sehr gefragt, weil sie das nötige Vertrauen in die Zukunft schaffen. Aber die neuen geistlichen Bewegungen müssen sich dazu stärker als bisher als kulturelle Gestaltungskräfte verstehen und entsprechend verhalten. In gewisser Weise müssen sie mehr soziale als geistliche Bewegung werden.

Ich will Ihnen einen kurzen Einblick in diese zwei Herausforderungen für eine Versöhnung mit der Zukunft geben.

Ich beginne mit der Natur unserer gegenwärtigen Probleme: Sie sind anders als noch am Ende des 20.Jahrhunderts, als man einen „Kampf der Kulturen“ befürchtete. Damals war die Sorge dass nach dem Ende des Kalten Krieges internationale Konflikte sich zunehmend entlang  der

 

Bruchlinien zwischen den Kulturen entwickelten –gewissermaßen Orient gegen Okzident. Man war der Ansicht, dass nur ein Dialog mithilfe von Vermittlungsinstitutionen das Risiko eines gewaltsamen Zusammenstoßes verringern konnte. Zu diesen Vermittlungsinstitutionen wurden damals Einrichtungen wie die Kirchen und demokratische Parteien oder auch die Medien gezählt. Mehr Information und mehr Teilhabe am öffentlichen Leben sollten als Kitt für Gesellschaften in der Zerreißprobe genügen. Erstaunlich ist: Die Bewegungen gehörten nicht dazu. Weder die neuen sozialen Bewegungen noch die neuen geistlichen Bewegungen.

Das ist heute anders. Die Situation ist anders und sogar die Natur der Vermittlungsprobleme ist am Anfang des 21.Jahrhunderts nicht mehr die gleiche wie am Ende des 20.Jahrhunderts. Bewegungen kommt auf dem Weg aus der Moderne eine Schlüsselstellung zu. Können Sie sich vorstellen, woran das liegt? Und was das heißt?

Zweifelsohne erleben wir heute einen Bedeutungszuwachs bei den Bewegungen. Zum Teil liegt das an der steilen Karriere der Bewegungen selbst und zum Teil an der zeitgleichen  Krise der mit ihnen konkurrierenden Organisationen; die Menschen suchen heute nach dem Unverstellten und gehen auf Distanz zum allzu Formalen, Bürokratischen. Das spricht mehr für Bewegungen und weniger für Organisationen. Zum besonderen Teil liegt der Bedeutungszuwachs der Bewegungen aber an der Systemkrise der modernen Gesellschaft.  Die gesellschaftlichen Prozesse der modernen Arbeitsteilung verhaken sich zunehmend und stottern dahin. Systemkrise heißt also: Das Betriebssystem der Moderne funktioniert nicht mehr. Seit der Finanzkrise 2007 wissen wir, dass wir mit der Wirtschaft das moderne Leitsystem verloren haben, aber weit und breit kein Ersatz in Sicht ist, Kunst sich sprichwörtlich vermarktet und Politik eher von den Zentralbanken als von Regierungen gemacht wird. Hybride Zeiten, in denen Bewegungen als Alternativen gefragt sind, weil sie schon immer gezeigt haben, wie es auch anders geht –jenes Leben in der Moderne.

Das Problem ist deshalb heute nicht ein gewisser Pluralismus wie wir ihn seit der modernen Gesellschaft im 18./19.Jahrhundert kennen, sondern der Mangel an klarer Gestaltung. Das aktuelle Problem des Pluralismus ist seine Formlosigkeit! Mit einer arbeitsteiligen Weltgesellschaft konnte man sich noch auseinandersetzen und hier und da vielleicht arrangieren, genauer gesagt: humanisieren. Mit Nichts geht das schlicht nicht mehr. Wir müssen damit rechnen, dass das Ende der Gesellschaft gekommen ist und neue Prozesse einer neuen Vergesellschaftung noch ganz am Anfang stehen.

Wir leiden heute, kurz gesagt, an Unbestimmtheit! Ein Beispiel: Aus dem modernen Versprechen der Freiheit ist inzwischen eine Zumutung geworden; haltlos kann sie weder gelebt noch verwirklicht werden. Ein anderes Beispiel: Aus dem erwarteten „Kampf der Kulturen“ sind vor allem Kämpfe innerhalb der Kulturen geworden, Kulturen sind längst keine kompakten Einheiten mehr –der aktuelle Islam zerfleischt sich selbst, auf andere Weise wie die EU, von den weltweiten Verteilungskonflikten, die den sozialen Frieden bedrohen, ganz abgesehen.

Unter diesen aktuellen Bedingungen fehlender sozio-kultureller Stabilität reicht es nicht mehr nach hinten auf die Ursachen von Konflikten zu schauen und auf den Lösungsbeitrag von so genannten Vermittlungsinstitutionen zu hoffen. Wer das z.B. in der Flüchtlingskrise tut, weiß selbst dann, wenn er einzelne Ursachen kennt und bekämpft, noch immer nicht, wie das Zusammenleben künftig aussehen und gelingen soll. Das ist keine Strategie zur Versöhnung, sondern höchstens Zeitgewinn –und insofern Zeichen der Ratlosigkeit, genauer gesagt: Visionsarmut! Es braucht heute deshalb einen Blick nach vorne; anders gesagt: eine Versöhnung mit der Zukunft.

Und dafür sind die neuen sozialen Bewegungen, aber noch mehr die neuen geistlichen Bewegungen wie geschaffen. Zukunftsvisionen gehören zu ihnen wie der Mitgliedschaftsausweis zur Organisation. Bewegungen bieten nicht nur konkrete Alternativen für andere Lebensorientierungen, sondern sie öffnen damit vor allem moderne Verengungen. Beispiel modernes Individuum: Daraus wird bei ihnen (wieder) eine ethische bzw. religiöse

 

und vor allem soziale Person mit entsprechenden Bindungen und Verantwortungen in ihrer konkreten Lebenswelt.

In dieser Hinsicht steht den neuen geistlichen Bewegungen allerdings eine Bewährungsprobe ins Haus. Aus Sicht der Bewegungsforschung müssen sie zeigen, dass sie als geistliche Bewegung nie nur geistliche, sondern immer auch soziale Bewegung sind –und im Glauben eine kulturelle Gestaltungskraft nutzen. Dann sind sie selbst den neuen sozialen Bewegungen überlegen, weil sie nicht wie diese auf bestimmte Themen festgelegt sind, sondern mit Gott und der Welt eine unbegrenzte Reichweite haben. Das Miteinander der geistlichen Bewegungen und ihrer Kirchen ist dabei entscheidend: Nur eine versöhnte Kirche kann einen glaubwürdigen Beitrag zur Versöhnung leisten. Allerdings wird ein „Miteinander für Europa“ bei einer Versöhnung mit der Zukunft nicht reichen; ein Miteinander für die ganze Welt von morgen ist gefragt. Alles andere wäre für globale Bewegungen wie die Fokolare, Sant’Egidio oder Schönstatt und viele andere auch weit unterhalb ihres Selbstverständnisses.

Ein Schlusswort: Hat die Hoffnung eine Zukunft? Ich habe Ihnen diese Frage vorgelegt, weil ich davon überzeugt bin, dass Sie die Antwort sind. Sie werden bei der Versöhnung mit der Zukunft gebraucht. Das heißt aber auch, dass Sie als geistliche Bewegungen kein Selbstzweck sind. Wo sie sich zu ihrer kulturellen Gestaltungskraft bekennen, machen Sie deutlich, dass es zur aktuellen Krise eine Alternative, ja ein Morgen gibt. Sie zeigen damit eigentlich, dass neue geistliche Bewegungen aus der Zukunft geboren sind und deshalb auf die Versöhnung mit der Zukunft abzielen!