Wage zu träumen VI

Not sieht Not

Am 9.12.feierte meine Mutter ihren 90. Geburtstag. Angesichts der Pandemie ein alles andere als leichtes Unterfangen. Noch dazu, da sie positiv getestet worden war und daher erst am 7.12. nach symptomfreien Verlauf aus der „Isolierabteilung“ wieder in ihr angestammtes Zimmer im Pflegeheim verlegt werden konnte. Da reale Besuche derzeit alles andere als einfach zu gestalten sind, kam die Idee auf, ihr über das Radio zu gratulieren, das praktisch „rund um die Uhr“ auf ihrem Nachtkästchen eingeschaltet ist. So kam es, dass ich ihr über den Rundfunk gratulieren konnte. Sie hat mir danach gestanden, dass sie das nicht so mitbekommen habe, dass sie im Radio zu hören sei [lediglich die Pflegerin habe sie gebeten, den Radioapparat auszuschalten]. Interessant war für mich jedenfalls, dass sie am Ende des kurzen Einstiegs nach dem Wohlbefinden eines unserer steirischen Priester gefragt hat und dass ich ihm Grüße ausrichten solle … Im Nachklang dachte ich mir: „Not sieht Not“.

Wie gut doch diese Einstellung uns tun würde! Freilich: wir erleben derzeit eine Krise, die so manches an Üblichem in unseren Breiten „durcheinander wirbelt“. Hunderttausende Arbeitslose, eine schrumpfende Wirtschaft, Herausforderungen an die Kapazitäten unserer Spitäler, große Anforderungen ans Pflegepersonal in den Krankenhäusern, den Intensivstationen wie auch in den Pflegeheimen [mehr als 200 in der Steiermark!] usw. usf. Daher ist es nachvollziehbar, das eigene Hemd mehr zu beachten als den Rock. – Diese kleine Begebenheit mit meiner Mutter lehrt mich eines Besseren: nicht stehenbleiben bei dem, was mir persönlich Not bereitet [kein einziges Mal in den mehr als 14 Tagen auf der Isolierstation hat sie bei einem Telefonat mir gegenüber die Ungewissheit geäußert, was das wohl bedeuten könnte, wenn sie Symptome bekommen würde etc.], sondern den Blick weiten und auch die anderen sehen, die Not leiden.

Wie sehr wir doch von den Zahlen und Tabellen und Statistiken die uns COVID täglich ins Haus liefert fast erdrückt werden – ja: vor lauter Hinschauen-Müssen erfahren wir uns wohl mitunter nur mehr als solche, die wegschauen. Wen wundert’s, dass für andere Fragestellungen fast kein Platz da ist:

  • Syrien
  • Flüchtlinge und deren Situation im Süden und Südwesten Europas
    und viele Millionen, die aufgrund irgendwelcher Vorgänge und Vorkommnisse sich nicht anders zu helfen wissen, als sich auf den Weg zu machen
  • Äthiopien und der dortige Bürgerkrieg samt Heuschreckenplage
  • Jemen
  • Sturm und Wasser in Mittelamerika
  • Verfolgung, Vertreibung, Tod …

Hinzu kommen weitere Fragestellungen vor Ort bei uns, etwa

  • rund um den Lebensschutz
  • rund um die Wirtschaft
  • rund um die sozialen Fragestellungen (Pensionen, ….)
  • rund um Gesundheitskosten …

Bei alledem könnte einem bzw. einer – steirisch ausgedrückt – „schlecht werden“, auch kann die Frage hochkommen, wieso ich auf andere schauen soll wo doch auch ich in Krise bzw. Not und auf Hilfe angewiesen bin[1]; schließlich: was kann denn schon der „barmherzige Samariter“ oder auch das Beispiel des hl. Martin bewirken[2], wenn doch das „System“ sich ändern müsse …

Mir scheint es wichtig, nicht das eine gegen das andere auszuspielen, denn nur dann, wenn ich nicht bei mir selbst stehen bleibe, kann es gelingen, dass ein geschwisterlicher Lebensstil mehr und mehr Raum greift unter uns. Denn: „Not sieht Not!“


[1] Hamsterkäufe wie auch den „Notgroschen“, den man sich zurücklegt für „schwerere Zeiten“, können hier als ein Beispiel neben vielen benannt werden.

[2] vgl. etwa die „Außensicht“ von Prof. Kurt Remele: Die Lektion des halben Mantels, in: Kleine Zeitung, 11.11.2020, 8.