Hinterher ist man meistens gescheiter. Und erst recht, wenn man aus Distanz beobachtet. Das sind zwei Gedanken, die mich dazu veranlasst haben, so manches zu notieren, das sich in den letzten Wochen ereignet hat. Ich tue dies nicht unbedingt in der Art einer zeitlichen Rückschau, sondern eher „aus dem Bauch heraus“, nach verschiedenen Themen strukturiert – und hier in unregelmäßigen Abständen. Und: ich habe kurz vor Ende der strengen Ausgangsbestimmungen meine Gedanken zu schreiben begonnen …
In der Woche vor dem Inkrafttreten der großen Maßnahmen um die Ausbreitung des Virus einzudämmen und Zustände wie in manchen der Nachbarländer zu vermeiden, haben sich die Religionsgesellschaften mit Vertretern der Regierung getroffen und ihre Mitarbeit – trotz der anstehenden Festivitäten in den monotheistischen Religionen [Pessach, Ostern, Ramadan] – hierbei zugesagt. Mit 15. März wurden im Bereich der katholischen Kirche in Österreich daher praktisch alle öffentlichen Gottesdienste ausgesetzt. – Zwei Monate später sollen sie wieder unter Auflage strenger Maßnahmen ermöglicht werden.
Die Berichte in den Wochen danach haben von allem Möglichen gesprochen – dass die Religionsgesellschaften, die einen Großteil der österreichischen Bevölkerung im Blick haben, hierfür einen wichtigen Beitrag geleistet haben, war nirgendwo zu lesen oder zu hören. Das hat manchen sichtlich „aufgestoßen“[1]. Es gab auch mir zu denken. Ostern ist eben doch mehr als „Tourismus“ und „Freizeit“: oftmals wurde ja öffentlich daran erinnert, das Osterwochenende nicht für Ausfahrten und Familienfeiern zu nutzen. – Andererseits: die Zugriffszahlen auf die aus dem Kraut sprießenden Übertragungen von Gottesdiensten waren enorm, wohl weit mehr als „live“ je gekommen wären?! So etwa teilte mit ein steirischer Pfarrer, mit dem ich am Palmsonntag telefoniert habe, mit, dass sein Privatradio sich angeboten hätte, die Liturgie zu übertragen: rund 1.500 hätten dieses Angebot zu Hause genützt – ganz zu schweigen von der Reichweite der Übertraagung der Osterspeisensegnung: 70 von 100 in der Steiermark, die am Karsamstag kurz nach 13:10 ferngesehen haben, schauten sich diese Feier an …
Um nicht ins Jammern zu kommen – einige Tage nach Ostern kam so mancher Dank, in der Pressekonferenz, in der Lockerungen für den 15. Mai angekündigt wurden, wurde die positive Rolle der Religionsgesellschaften für die Mitarbeit der Eindämmung der Ausbreitung von COVID-19 bedankt: Vielleicht gilt es auch ernst zu nehmen, dass wir eben nicht mehr die „Macht“ haben, die wir uns mitunter erhoffen?! Ich fühlte mich an eine Pfarrgemeinderatssitzung in Bruck/Mur erinnert: wir hatten einen Stadtrat eingeladen, den wir gebeten haben – er war durchaus kirchlich sozialisiert – uns zu schildern, wie wir als römisch-katholische Pfarre wahrgenommen würden in der Stadt und von deren Verantwortlichen. Der langen Rede kurzer Sinn und damit die Ernüchterung: „Außer in der Nächtigungsstatistik durch die Caritas-Notschlafstelle eigentlich nicht.“ Mein erster Gedanke damals: „Da plagen wir uns ab und meinen ‚das beste Programm‘ für alle zu haben – und dann das?“ Andererseits wurde schon im Gespräch danach mit dem Stadtrat deutlich, welch große Entlastung es für uns sein kann, eben unseren Beitrag zum Gelingen des Ganzen beizutragen ohne den Anspruch „gehätschelt“ und „umsorgt“ zu werden. Wir feierten viel „freier“ und hatten danach eine unbeschwertere Art unsere Angebote für das Miteinander in dieser Gegend und damit auch mehreren politischen Gemeinden einzubringen.
Vielleicht sind wir auch herausgefordert, uns dessen vertieft und neu bewusst zu werden? Ob es uns passt oder nicht?! Auch weltweit ist Kirche mitunter alles andere als gesellschaftlich so wie bei uns abgestützt – und dennoch tritt sie mit Selbstbewusstsein auf. Aus dem Nordosten Indiens habe ich mir von meiner Reise im November 2018 etwa das mitgenommen: Der emeritierte Erzbischof von Ranchi Telesphore Kardinal Toppo meinte in der persönlichen Begegnung mit ihm in etwa: „Was ihr in der Kirche in Europa an Veränderungen wahrnehmt und angesichts früherer Zeiten als ‚Schwächung‘ bzw. ‚Schwachheit‘ zu bezeichnen versucht seid, ist unsere Stärke …: wir hatten als Minderheit nie ‚Macht‘ inne, haben aber mit dem, was wir leben, ‚Einfluss'“. Das haben wir wohl noch zu lernen – und: wir haben auch zu vertiefen, dass wir uns mit dem, was uns wirklich ausmacht, nicht schämen müssen, auch wenn uns manch scharfer Wind entgegenweht, der sich – ich nenne etwa die Missbrauchskrise und anderes an Fehlverhalten – mitunter zu einem doch deutlichen Sturm verschärft.
Sind wir schon in dieser Gesellschaft bis ins letzte angekommen? Oder trauern wir nach wie vor „anderen Jahrhunderten“ und „früheren Zeiten“ nach und vergessen dabei, dass der Blick zurück uns wie die Frau des Lot zur Salzsäule erstarren lässt? Ich ergänze sofort: auch wenn ich diese Zeilen recht frei niederschreibe: sie sind Gewissenserforschung auch für mich in mehrerlei Hinsicht …
[1] vgl. hierfür u.a. den Pfarrer in Krumpendorf, der sich darüber in der Kleinen Zeitung kurz nach Ostern geäußert hat.