Hinterher ist man meistens gescheiter. Und erst recht, wenn man aus Distanz beobachtet. Das sind zwei Gedanken, die mich dazu veranlasst haben, so manches zu notieren, das sich in den letzten Wochen ereignet hat. Ich tue dies nicht unbedingt in der Art einer zeitlichen Rückschau, sondern eher „aus dem Bauch heraus“, nach verschiedenen Themen strukturiert – und hier in unregelmäßigen Abständen. Und: ich habe kurz vor Ende der strengen Ausgangsbestimmungen meine Gedanken zu schreiben begonnen …
„Wie kann ich trotz all der Beschränkungen mit Menschen in Kontakt treten?“ Neben den verschiedenen Möglichkeiten schriftlich mit Menschen zu kommunizieren – die modernen Medien erlauben hier ja vieles – lief auch mein Telefon „heiß“. Neben den üblichen Wünschen zum Geburtstag, die ich – soweit es die Zeit erlaubt – Diakonen und Priestern unserer Diözese ausspreche, habe ich es mir in den vergangenen Wochen zur Gewohnheit gemacht, den einen oder anderen der Priester in unserer Diözese, die eine oder andere Ordensgemeinschaft telefonisch zu erreichen, um nachzufragen wie es gehe.
In diesen heutigen Gedanken möchte ich aber die Kontakte zu meiner Mutter kurz betrachten. Sie lebt seit geraumer Zeit im Bezirkspflegeheim in Gleisdorf. Daher war sie wie so viele im Land auch davon betroffen, nicht besucht werden zu können. Üblicherweise versuchte ich in den letzten Monaten immer dann, wenn es in die Oststeiermark ging, wenigstens einige Minuten bei ihr vorbeizuschauen. Diese Möglichkeit war mir nun genommen. Es blieb das Telefon. Und damit war zugleich Sensibilität gefragt – im Hören und die Zwischentöne wahrzunehmen. Zunächst – sie ist eben wie sie ist – schien es, als würde es ihr gar nicht mal so abgehen: Endlich habe sie Zeit in Ruhe zu lesen – mit 89 nach wie vor ohne Brille(!) – sagte sie mir, zu stricken und ähnliches mehr. Es gilt wohl zu erwähnen, dass meine Mutter in Gleisdorf sehr bekannt ist und sie es daher förmlich „genießt“, viele im Heim zu kennen und viele Besuche zu empfangen. Noch vor einigen Tagen teilte sie mir in ihrer Art mit, dass sie es nicht wünsche, dass wir sie im eingerichteten Frei-Besucherbereich aufsuchen: dort wären wir zu weit von ihr entfernt – und da sie schwer höre, müssten wir schreien – und das passt ihr nicht; wir sollten lieber anrufen. Sie ist wie sie ist …
Dann auf einmal eine Mitteilung meiner Schwester, ich solle mich nicht wundern, wenn eine mir fremde Nummer mich per Video anruft: eine Mitarbeiterin des Pflegeheimes würde auf diese Art ein Telefonat zwischen ihr und mir herstellen. Es klappte. Schon damals wurde mir bewusst, wie sehr anders es ist, einen Menschen nur zu hören oder ihn auch zu sehen. Und wie sehr es noch einmal anders sein wird, wenn ich ihr wieder von Angesicht zu Angesicht gegenüber treten kann!
Ich habe dann auch vernommen, dass ihr die Möglichkeit geboten wurde, über ein Smartphone hin und wieder die übertragenen Messfeiern mitzuerleben. Dass am Ostersonntag die Messe in der Kapelle im Erdgeschoss gefeiert und über die Fernsehapparate auch in Zimmer übertragen wurde oder auch in den Aufenthaltsräumen der einzelnen Wohngeschosse der Sonntagsgottesdienst im Fernsehen mitgefeiert wurde, machte mir deutlich, dass die Mitarbeiter im Heim wohl das möglichste getan haben, dass den Bewohnern die fehlende körperliche Nähe und Zuwendung der Verwandten und Freunde zumindest ein wenig erleichtert wurde. Darüber hinaus kam mir zu Ohren, dass unsere Pflegeheimseelsorge den Mitarbeitenden dabei geholfen hat, die eine oder andere „seelsorgliche“ Aufgabe während des Besuchsverbotes aufrecht erhalten zu können.
In einem weiteren Telefonat – es war schon nach Ostern – hat sie mir dann mitgeteilt, dass sie ein Kartenspiel durch ihre Zimmerkollegin gelernt habe. Ich kann mich nicht erinnern meine Mutter je beim Kartenspiel gesehen zu haben. – Solidarität wird gelebt auch im hohen Alter!
Zugleich weiß ich aus anderen Telefonaten, wie sehr sich manche aufgrund ihrer Beschwerden im Alter mit der ganzen Situation nicht zurechtfinden und auch nicht zurechtfinden können. Die Herausforderungen sind erst recht für jene ältere Mitmenschen, die allein leben, enorm. Bilder, in denen Begegnung durch Plexiglaswände, auf Hebebühnen von Kränen und ähnlichem mehr berichtet werden, sind Zeichen dafür, dass die Balance zwischen physischer und sozialer Gesundheit gerade im Bereich jener Menschen, die wir üblicherweise zu Risikogruppe zählen, alles andere als leicht zu finden ist. Und: wie notwendig es ist, dass nicht nur an die physische Gesundheit gedacht wird. Meldungen von Menschen, die meinten „Lieber sterbe ich an Corona als an Einsamkeit“ machen sehr nachdenklich und zeigen auf, dass es in krisenhaften Situationen oft nicht zwischen „gut“ und „schlecht“, sondern nur das „geringere Übel“ gewählt werden kann. Für mich gilt auch hier: das, was möglich ist, tun. Aber tue ich das Mögliche?