Fokussiert

Hinterher ist man meistens gescheiter. Und erst recht, wenn man aus Distanz beobachtet. Das sind zwei Gedanken, die mich dazu veranlasst haben, so manches zu notieren, das sich in den letzten Wochen ereignet hat. Ich tue dies nicht unbedingt in der Art einer zeitlichen Rückschau, sondern eher „aus dem Bauch heraus“, nach verschiedenen Themen strukturiert – und hier in unregelmäßigen Abständen. Und: ich habe kurz vor Ende der strengen Ausgangsbestimmungen meine Gedanken zu schreiben begonnen …

Ich kann mich noch gut erinnern: in meiner damaligen Aufgabe als Regens des Bischöflichen Seminars, heute des Bischöflichen Internats, berichtete der pädagogische Leiter von einem Sicherheitstraining an dem er – von der Polizei veranstaltet – teilgenommen hat. Die Übungsannahme für die Pädagogen, die diesen Kurs belegt hatten, war: ein Vater kommt in die Schule, um sich beim Lehrer über eine für ihn falsche Benotung seines Kindes zu beschweren. Die Szene vor dem vermeintlichen Konferenzzimmer wurde gefilmt. Keiner der Probanden – es waren einige – habe im Streit, der gespielt wurde, wahrgenommen, dass der „Vater“ längere Zeit hindurch mit einem Messer vor dem Gesicht der Lehrperson herumfuchtelte. Die Moral von der Geschichte: in Stresssituationen verengt sich dein Blick, bist du auf eine Sache ganz fokussiert und bist nicht mehr fähig, das Umfeld der rechten Art und Weise wahrzunehmen.

Ähnliches glaube ich in den vergangenen Wochen längere Zeit hindurch angesichts der „Corona- Krise“ wahrgenommen zu haben. Praktisch alle Medien waren voll von Berichten über ein „unsichtbares Etwas“, das praktisch die ganze Welt in Angst und Schrecken versetzt. Die täglichen Informationssendungen im Fernsehen wurden nicht nur verlängert, sondern auch auf alle Kanäle des öffentlich-rechtlichen Rundfunks durchgeschaltet. Auch die durch den sogenannten „lockdown“ bedingten großen Herausforderungen in unserem Land – genannt seien hier etwa die Zunahme an Arbeitslosen, die mehr als 1 Million Menschen in Kurzarbeit, die vielerorts und oft nicht bedachten Menschen in den sogenannten „systemrelevanten Berufen“, die großen wirtschaftlichen Verwerfungen usw. – wurden unter dem Blickwinkel von Covid-19 thematisiert. Pressekonferenzen, neue Verordnungen und Entscheidungen, in großer und notwendiger Schnelligkeit beschlossene Gesetze – wir alle wissen um die Entwicklungen der vergangenen Wochen. Die ganze Welt und damit auch viele in Österreich waren fokussiert, waren fixiert auf das Virus. So als ob auf dem ganzen Planeten während dieser Zeit niemand an Hunger leiden würde, niemand durch Waffengewalt, durch Krieg, durch Flucht und Vertreibung, durch Armut usw. geplagt wäre: aufrechter Blick und damit Orientierung in die Zukunft ist angesichts des langsamen und dennoch entschiedenen Vorantastens in einer Krise nicht recht möglich. Und dennoch: die Welt mit ihren schon fast zur Normalität gewordenen Problemen dreht sich dennoch weiter: zwischendurch gab es einmal einen Bericht über die Unsummen, die nach wie vor in der Welt für die Produktion von Waffen ausgegeben werden.

Für mich und uns bleibt die Frage: „Wie können wir es schaffen, wieder mehr und stärker uns im Ganzen wahrzunehmen?“

Bei diesen Überlegungen hilft mir die zeitliche Einordnung der Krise im Jahreslauf von 2020: Sie ereignet sich im sogenannten Osterfestkreis unserer Kirche, der mit dem Aschermittwoch und der Fastenzeit beginnt und über die Karwoche und Ostern bis zum hohen Pfingstfest dauert. Interessant dabei ist zweifellos ein mehrfaches:

  • Während der Fastenzeit wurde uns Quarantäne auferlegt – wie stimmig: „Quarantäne“ und „quaresima“, die italienische Bezeichnung für Fastenzeit, haben dieselbe Wortwurzel. Wurden früher Seefahrer, die erkrankt waren, zur Sicherheit 40 Tage lang auf dem Schiff im Hafen festgehalten, so dient auch die 40-tägige Fastenzeit der Selbstbesinnung und damit der Klärung und Besinnung auf das Wesentliche unseres persönlichen Daseins.[1] Gesund zu sein ist eben mehr als bloß keine Krankheit haben. Die uns auferlegte Fastenzeit wurde somit zur Möglichkeit der Neuorientierung.
  • Unmittelbar nach der Auferstehung unseres Herrn zu Ostern wussten die Jünger nicht recht, wie sie mit dieser Erfahrung umgehen sollten: Sie schlossen sich in Selbstisolation im Obergemach ein. Erst mit dem Heiligen Geist ausgestattet war es ihnen möglich, von dem, was sie erlebt hatten, Zeugnis zu geben: erst danach schafften sie es, die Botschaft des Lebens bis an die Grenzen der damals bekannten Erde zu bringen. Das leere Grab allein vermochte nicht, sie zum Gehen zu bringen. Es brauchte die Begegnung mit ihm in Galiläa und die Stärkung durch den Heiligen Geist.[2]

Vielleicht gelingt es auch uns im Jahr 2020 rund um Pfingsten aufs Neue die Berufung der Kirche, ihre Sendung hinein in diese unsere Welt mit all ihren Fragestellungen und Herausforderungen an Solidarität und Nachhaltigkeit usw. zu formulieren?

[1] Ich verdanke diese Erkenntnis dem Büchlein von Anselm Grün: Quarantäne, Freiburg 2020.

[2] Dankbar für diese Überlegungen bin ich zum Einen dem früheren Dogmatiker in Innsbruck Jozef Niewiadomski (https://www.uibk.ac.at/theol/leseraum/texte/1299.html 1.5.2020) bzw. Tomáš Halík (http://www.venio-osb.org/fileadmin/content/halik-theologie-pandemie.pdf 1.5.2020).