instruiert werden XI

11. schrittweises Vorangehen

Strukturen zu erneuern, sie zu verändern bedeutet auch, für so manchen „Liebgewordenes“ neu zu betrachten – wenn ich nur an mich selbst denke, wie schwer es mir mitunter fällt, Verhaltensweisen zu erneuern. Das Evangelium ernstnehmend muss freilich auch gesagt werden: es ist eine Grundhaltung derer, die sich in der Nachfolge Jesu wissen, „auf dem Sprung“ zu sein. So wichtig, richtig und gut es ist, dass eben das „Geistliche“ auch „auf den Boden gebracht“ wird und werden muss, will es ganzheitlich und damit letztlich auch menschlich sein, so sehr gilt auch, dass Strukturen und lebendige Systeme es so an sich haben, eher zu bewahren. Dass diese dem Ganzen innewohnende Tatsache was Gutes an sich hat ist meines Erachtens unbestritten, verhindert es doch sich einfach nach dem Wind zu drehen und jede Mode mitzumachen, auch wird dadurch die Geschichtlichkeit des Menschen oder eben einer Institution ernst genommen. Andererseits – und diese Wirklichkeit „lähmt“: Gerade weil und wenn wir uns als Christen wissen ist ständig der Gefahr zu wehren, die „Werke Gottes“ mit Gott zu verwechseln[1]; auch die Kirche ist „Instrument“ und nicht Ziel, Zeichen und nicht Vollendung.

Wenn daher in der Instruktion ein „schrittweises Vorangehen“ eingemahnt wird in strukturverändernden Prozessen, dann ist diese Spannung im Hintergrund zu halten. Aus dem Blickwinkel der Umkehr, die uns das Dokument vorgibt, ergibt sich die Notwendigkeit, dies auch in gewisse, dem Heute entsprechende Normen zu gießen; andererseits gilt, dass Strukturen eben gemeinsam mit den Menschen gegangen und „erobert“ werden müssen – auch die Pfarrstrukturen haben sich erst mit der Zeit entwickelt und waren bzw. sind eine nach wie vor angemessene Form kirchliches Leben tatsächlich „bis an die Grenzen der Erde“ (vgl. Mt 28,20) zu bringen, also unsere Sendung zu allen – auch als Gewissenserforschung – im Blick zu haben. Aus dieser und in dieser Spannung der [persönlichen] Umkehr-Notwendigkeit und der, die kirchlichen Lebensformen immer und immer wieder dem Heute anzupassen, einerseits und der Beharrungskräfte andererseits, die sich mitunter vom „Es war schon immer so“ treiben lassen[2] wie auch der Notwendigkeit, gemeinsam – und damit als Kirche – voranzugehen, erwächst Leben: Stachel im Fleisch einer saturierten gut aufgestellten und organisierten Kirche wie in unseren Breiten einerseits und zugleich Herausforderung, nicht aus einer gewissen Planungssicherheit und -notwendigkeit heraus am „grünen Tisch“ mit einem Federstrich[3] gleichsam alles neu aufzustellen.

Ob wir auf diesem Weg der „Kirchenentwicklung“ in unserer Diözese immer das rechte Maß gefunden haben, wage ich zu bezweifeln, andererseits haben wir uns in mehreren Etappen bemüht – und dieses Bemühen dauert wohl die nächsten Jahrzehnte (!) auch noch an, uns von der „Sendungsperspektive“ antreiben zu lassen, Kirche in unserer Heimat aufs Neue Kraft zu geben. Die Frage nach dem Willen Gottes für die Kirche von Graz-Seckau stand am Anfang der Maßnahmen, die wir eingeleitet haben und die in den nächsten Jahren schrittweise umgesetzt werden. Dass der Rahmen abgesteckt werden muss, innerhalb dessen der Bewegungsraum umschrieben wird, und dass dies rasch zu geschehen hat, damit man sich nicht in endlosen „Geschäftsordnungsdebatten“ ergeht, war mir aber auch klar:

*    Die Struktur der Pfarren als „Netz“, das wir auswerfen, bleibt erhalten – auch um den Menschen Identität zu geben und „niemanden zu vergessen“.
Dies kann und darf andererseits nicht bedeuten, dass die Selbstbezogenheit, in der mitunter pfarrliches Leben sich abspielt „einbetoniert“ wird: das „Kirche ist mehr“ muss gelebt und auch erfahren werden, etwa dadurch, dass sich Kirche und damit auch pfarrliches Leben, nicht nur in den sicheren Mauern einer Pfarrkirche oder des Pfarrheimes abspielen, sondern eben auch in Familien, an der Arbeitsstelle, in Bildungseinrichtungen, in Kranken- und Pflegeheimen, in den caritativen Einrichtungen usw. Klar ist: Kirche „spielt“ sich in unterschiedlichen Lebenskontexten ab, eben wo „zwei oder drei“ … Dieser „inneren Struktur-Erweiterung“ [Stichwort: Kirchorte bzw. kirchliche Erfahrungsräume] wird die zweite an die Seite gegeben: es gibt nicht nur uns, es gibt auch die Nächsten – und diese sind bekanntlich gleich zu lieben wie wir uns selbst lieben (vgl. Mt 22,39):

*             Im Seelsorgeraum, einer zunächst territorialen Umschreibung mehrerer Pfarren, die gemeinsam mit den Verantwortungsträgern vor Ort in den Pfarren und früheren Dekanaten erarbeitet wurde und die mit 1.9.2020 vorläufig mal rechtlich eingeführt wird[4], sollen die Grunderfahrungen kirchlichen Lebens an den unterschiedlichen Orten netzwerkartig zusammengesehen und auch erfahren werden. Denn nicht jede der unterschiedlich großen Pfarren kann alles und kann für alles zuständig sein: das Teilen unserer Lebens- und Glaubenserfahrungen ist etwas, das uns neu zuwachsen muss und auch dabei hilft.
Die Umsetzung und damit auch inhaltliche Ausgestaltung des Miteinanders im Seelsorgeraum wird mit den Gläubigen vor Ort erarbeitet und hat daher auch unterschiedliche Geschwindigkeiten[5]: so etwa gibt es in der Stadt Graz einen „Kooperationsraum“ (dort wird intensiv zusammengearbeitet, aber auch ernstgenommen, dass die meisten Pfarrer dort kurz vor der Emeritierung stehen) sowie eine ganz besondere Situation im Seelsorgeraum „Graz-Mitte“, der besondere Herausforderungen hat für die ganze Stadt, die Beichtkirchen beherbergt etc. Auch ist das Mit- und Zueinander verschiedener Pfarren ob der Topographie zu berücksichtigen etc. – Mit dieser schrittweisen Annäherung trotz und gerade ob der klaren Zielvorgabe – so hoffe ich – ist die Spannung gut gelebt, die sich auch darin ausdrückt, dass akzeptiert wird, wenn Pfarrer (zunächst) Pfarrer in ihrer angestammten Pfarre bleiben[6]. Das, wozu sie alle „verpflichtet“ werden ist eigentlich „nur“, dass jede/r in der Seelsorge angestellte Person/Priester sich auf das Gesamt des Raumes hin gesendet weiß.

[1] Diese Differenzierung ist wichtig und wertvoll. Der verstorbene vietnamesische Kardinal François Xavier Nguyên Van Thuân hat in seinen Exerzitien mit der Kurie des Vaters zu Beginn dieses Jahrtausends diese Unterscheidung als ein Kriterium benannt, das es ihm ermöglichte, die Jahre in Einzelhaft zu überstehen. Seine damaligen Gedanken sind meines Erachtens nach wie vor wertvolles Brot auf dem Glaubensweg: François Xavier Nguyên Van Thuân, Hoffnung, die uns trägt: Die Exerzitien des Papstes, Freiburg: Herder 2012 (nach 6 Auflagen als Taschenbuch)

[2] Beide Seiten werden in der Instruktion benannt, meines Erachtens aber zu wenig wirklich in der Spannung gelebt, die es eben auch ermöglichen muss, in unterschiedlichen Herausforderungen diese auf unterschiedliche Art und Weise zu leben.

[3] Wäre nicht für eine solche Art und Weise „Kirchenstrukturen“ zu erneuern der Begriff „klerikal“ angebracht?

[4] „vorläufig“ deshalb, weil dieses Miteinander ein lebendiges ist: schon in der Phase seit der Benennung der Seelsorgeräume hat sich die eine oder andere Veränderung ergeben. Auch in Hinkunft soll diese Lebendigkeit erhalten bleiben – mit ein Grund, wieso der Seelsorgeraum nicht als „juristische Person“ – weder kirchlich noch staatlich – errichtet wird.

[5] Mitunter gab es schon lebendiges Miteinander zwischen Pfarren – ich denke da etwa an den Seelsorgeraum „Oberes Feistritztal“, mitunter müssen in Eigenständigkeit nebeneinander lebende Pfarren erst zusammengeführt werden; in anderen Gegenden wiederum ist das Verbindende zwischen kirchlichen Realitäten bislang nur der Pfarrer [von dort her auch „Pfarrverband“], usw.

[6] Selbst dort, wo eine Pfarre von einem „Team“ betreut wird (vgl. can. 517§1) haben wir der Klarheit wegen die Priester gebeten, zunächst auf das Amt des Pfarrers zu verzichten um dann als „Pfarrer nach can. 517§1“ aufs Neue mit einem Kollegen eingesetzt zu werden. – Die kirchenrechtlichen Unklarheiten in der Begrifflichkeit (in can. 517§1 wird z.B. nur von „Leitung“ der Pfarre gesprochen, der Titel der Leitenden aber nicht benannt) wurden auf diese Art und Weise „kreativ“ gehandhabt. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass die Priester, die sich auf den Prozess wirklich eingelassen haben, hier bereit sind, die einzelnen Schritte auch rechtlicher Natur mitzugehen, die ja dem Leben dienen sollen.