Kirche im Lockdown (?) – VI

Der neue Generalsekretär der Bischofssynode Mario Grech hat Anfang Oktober der italienischen Zeitschrift „La civiltà cattolica“ ein Interview gegeben – Interviewpartner waren Antonio Spadaro und Simone Sereni (https://www.laciviltacattolica.it/articolo/la-chiesa-sulla-frontiera/). Ende Oktober erschien es auf Englisch (https://www.laciviltacattolica.com/bishop-mario-grech-an-interview-with-the-new-secretary-of-the-synod-of-bishops/). Im Interview nimmt der von Papst Franziskus zum Kardinal erhobene frühere Vorsitzende der Bischofskonferenz von Malta und Bischof der dortigen Diözese Gozo zu Fragen rund um die Kirche in der Zeit der Pandemie Stellung. Dies ist bedeutsam, um seine Gedanken zu verstehen, die uns mitten in der „2. Welle“ erneut bewegen. – Hier nun der 6.  und letzte Teil des Interviews.

Spadaro-Sereni: Kehren wir nun zurück, um einen weiteren Horizont zu erwägen. Das Virus kennt keine Barrieren. Wenn individuelle und nationale Egoismen entstanden sind, ist macht dies deutlich, dass wir auf der Erde eine fundamentale menschliche Geschwisterlichkeit leben.

Grech: Diese Pandemie sollte uns zu einem neuen Verständnis der heutigen Gesellschaft führen und es uns ermöglichen, eine neues Bild von Kirche zu erkennen. Es wird gesagt, dass Geschichte ein Lehrer ist, der oft keine Schüler hat! Gerade wegen unserer Selbstsucht und Individualität haben wir ein selektives Gedächtnis. Wir löschen nicht nur die Schwierigkeiten, die wir verursachen, aus unserem Gedächtnis, sondern können auch unsere Nachbarn vergessen. Beispielsweise haben bei dieser Pandemie wirtschaftliche und finanzielle Überlegungen häufig Vorrang vor dem Gemeinwohl. Obwohl wir in unseren westlichen Ländern stolz darauf sind, in einer Demokratie zu leben, wird in der Praxis alles von denen angetrieben, die politische oder wirtschaftliche Macht besitzen. Stattdessen müssen wir die Geschwisterlichkeit wiederentdecken. Wenn man die mit der Bischofssynode verbundene Verantwortung übernimmt, denke ich, dass Synodalität und Geschwisterlichkeit zwei Begriffe sind, die aufeinander bezogen sind.

In welchem Sinn? Wird die Synodalität auch der Zivilgesellschaft vorgeschlagen?

Ein wesentliches Merkmal eines synodalen Prozesses in der Kirche ist der geschwisterliche Dialog. In seiner Rede zu Beginn der Synode über junge Menschen sagte Papst Franziskus: „Die Synode muss ein Akt des Dialogs sein, vor allem unter den Teilnehmern. Und die erste Frucht dieses Dialogs ist, dass jeder offen ist für Neues, um die eigene Meinung aufgrund dessen zu ändern, was er von den anderen gehört hat.“[1] Darüber hinaus bezog sich der Heilige Vater zu Beginn der Sonderversammlung der Synode für den Amazonas auf die „mystische Geschwisterlichkeit “[2] und betonte die Bedeutung einer brüderlichen Atmosphäre unter den Synodenvätern in der Aula, „die es hier drinnen geben muss“.[3]

Diese Kultur des „geschwisterlichen Dialogs“ kann allen Versammlungen – den politischen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen – helfen, Orte der Begegnung und nicht der Konfrontation zu werden. In einer Zeit wie der unsrigen, in der wir überzogene Souveränitätsansprüche der Staaten und eine Rückkehr zum Klassismus[4] erleben, könnten soziale Subjekte diesen „synodalen“ Ansatz neu bewerten, um einen Weg der Annäherung und eine gemeinsame Sichtweise zu ermöglichen. Wie Christoph Theobald argumentiert, kann dieser „geschwisterliche Dialog“ einen Weg zur Überwindung des „Kampfes zwischen Wettbewerbsinteressen“ eröffnen: „Nur ein reales und quasi-physisches Gefühl der ‚Geschwisterlichkeit‘ kann es ermöglichen, den sozialen Kampf zu überwinden und einen Zugang zu gewähren zu Verständnis und Zusammenhalt, wenn auch fragil und vorübergehend. Autorität wird hier in ‚Autorität der Geschwisterlichkeit‘ umgewandelt; eine Transformation, die eine geschwisterliche Autorität voraussetzt, die in der Lage ist, durch Interaktion das evangeliumsgemäße Gefühl der Geschwisterlichkeit – oder den ‚Geist der Geschwisterlichkeit‘ gemäß dem ersten Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte – zu wecken, während die Stürme der Geschichte es zu verschlucken drohen“[5]

In diesem sozialen Rahmen spiegeln sich die weitsichtigen Worte des Heiligen Vaters stark wider, als er sagte: „Eine synodale Kirche ist wie ein „für die Völker aufgestelltes Zeichen“ (vgl. Jes 11,12) in einer Welt, die – obwohl sie Beteiligung, Solidarität und Transparenz in der Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten fordert – oft das Schicksal ganzer Völker den gierigen Händen begrenzter Machtgruppierungen überlässt. Als Kirche, die mit den Menschen „gemeinsam vorangeht“ und an den Mühen der Geschichte teilhat, hegen wir den Traum, dass die Wiederentdeckung der unverletzlichen Würde der Völker und des Dienstcharakters der Autorität auch der Zivilgesellschaft helfen kann, sich in Gerechtigkeit und Brüderlichkeit aufzubauen und so eine schönere und menschenwürdigere Welt zu schaffen für die Generationen, die nach uns kommen.“[6]

[1] Franziskus, Ansprache des Heiligen Vaters zu Beginn der Jugendsynode, 3.10.2018.

[2] Franziskus, Evangelii gaudium, 92.

[3] Franziskus, Grußwort bei der Eröffnung der Bischofssynode für die Panamzonas-Region, 7.10.2019.

[4] Vorurteile oder Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft oder der sozialen Position.

[5] C. Theobald, Dialogo e autorità tra società e Chiesa, prolusione in occasione del «Dies academicus» della Facoltà teologica del Triveneto, 22.11.2018.

[6] Vgl. Franziskus, Ansprache zur 50-Jahr-Feier der Errichtung der Bischofssynode, 17.10.2015.