Nomaden im Leben – Nomaden im Tod

Nach- und sehr bedenkenswert halte ich den Leitartikel von Chefredakteur Hubert Patterer in der „Kleinen Zeitung“ vom 1. November 2014 (S. 10), der anknüpft an ein „Requiemgedicht“ von Marie Luise Kaschnitz auf der Titelseite dieser Ausgabe und den ich hier  Auszügen dokumentiere:

Dein Schweigen
Meine Stimme
Dein Ruhen
Mein Gehen
Dein Allesvorüber
Mein Immernochda.

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„Wir haben der heutigen Ausgabe ein Gedicht von Marie Luise Kaschnitz vorangestellt. Es ist der Auszug eines lyrischen Requiems, zugedacht ihrem verstorbenen Mann. Über die getrennten Räume hinweg spricht die Trauernde den Verlorenen an. Die beiden bleiben im Gespräch, der Tod hat die Liebe nicht zum Verstummen gebracht. Im Eingedenken lebt der Verblichene, das Du, fort.

Tot ist, wer nicht erinnert wird. Erst dann erlischt die Identität: der zweite Tod. Neuerdings wird auf den Friedhöfen vermehrt doppelt gestorben. Bei einem Begräbnisbesuch in der Stadt stachen billagelbe Aufkleber auf Grabsteinen ins Auge: „Grabrecht verfallen“. Offenkundig ist niemand mehr da oder bereit, die Ruhestätte für ein Gebet oder Gespräch aufzusuchen, zu pflegen und zu zahlen. „Genug gezahlt“ stand trotzig auf einem Überkleber. […] Der Tod, eine lästige Last.

Das Wie-wir-Leben korreliert mit dem Wie-wir-gehen-Wollen. Der Tod als Angebot. Im Radio pries gestern eine Bestattungsfirma die Naturbeisetzung an, die in den Wind gestreute Asche. Das Ich, romantisch und ökologisch korrekt entsorgt in der Ortlosigkeit. Das liege im Trend. Zur Auswahl steht eine Salzburger Alm oder ein Stück Grün im 15. Wiener Bezirk, gleich neben einem Baum. Den könne man, wer wolle, als Trauernder umarmen. Und das große Asset: „Keine Nachfolgekosten“.

Das ist der effiziente, optimierte Tod der Effizienz-und Optimierungsgesellschaft. Sie ist befreit von jedweder Erinnerungs-, Besuchs-, Empathie- und Bezahlpflicht. Der Mensch besorgt zu Lebzeiten als Dienstleistung an die autonome Ich-Generation seine vollkommene restlose Entsorgung.

Es gibt nichts zu beklagen. Der individualistische Tod, der kein Du, kein Immer-noch-Da erwartet, ist das schlüssige Ende dessen, was ist. Die alten Zugehörigkeiten lösen sich auf, die Großfamilien wie die Kleinfamilien, Splitter fügen sich neu oder bleiben Splitter, eine brüchige, parzellierte Gesellschaft, die auf Verpflichtungsfreiheit pocht: So nennt sie der Soziologe Manfred Prisching. Nicht Ebola, der Narzissmus sei die Epidemie der Stunde. Zwar gebe es virtuelle Communitys, aber „Fußballfreunde helfen nicht bei der Pflege der Großmutter, genau-so wenig wie die 1.000 Facebook-Freunde“. Alles zerfließt. Was bleibt, ist die vernetzte Vereinzelungsmasse. Die Asche im Wind ist ihr Abbild.“

Hubert Patterer kann hier erreicht werden.