Umgang mit Regelungen

Hinterher ist man meistens gescheiter. Und erst recht, wenn man aus Distanz beobachtet. Das sind zwei Gedanken, die mich dazu veranlasst haben, so manches zu notieren, das sich in den letzten Wochen ereignet hat. Ich tue dies nicht unbedingt in der Art einer zeitlichen Rückschau, sondern eher „aus dem Bauch heraus“, nach verschiedenen Themen strukturiert – und hier in unregelmäßigen Abständen. Und: ich habe kurz vor Ende der strengen Ausgangsbestimmungen meine Gedanken zu schreiben begonnen …

Da gibt es also „Grundprinzipien“ in dieser Krise, denn es geht ja darum, die Verbreitung des Virus einzudämmen:

  • möglichst wenige physische Kontakte mit anderen Personen
    Und daher eben nicht zu viele unterschiedliche Personen, die nicht im selben Haushalt leben, in einem Raum, keine – zu großen – Veranstaltungen bzw. Treffen etc. (zum heutigen Tag daher Beschränkung auf 10 Personen, außer in Ausnahmefällen wie bei Begräbnissen), vor allem was mit länger andauernden Kontakten mit immer denselben Personen in der Umgebung anlangt (also für Singen, gemeinsames Sprechen, längere Treffen und Sitzungen von Bedeutung)
  • Abstand halten
    Rektor Müller von der MedUni in Wien hat uns Bischöfe auf ein Video aufmerksam gemacht, in dem japanische Forscher die Atemluft und die in ihr zirkulierenden Aerosole sichtbar gemacht hat, aus dem deutlich hervorgeht, wie lange sich kleinste Tröpfchen aus der Atemluft unmittelbar vor der sprechenden bzw. singenden Person halten
  • (Hände-)Hygiene
  • Schutz der Risikogruppe: ältere und vor allem ältere Menschen mit schweren Vorerkrankungen

Aus diesen Prinzipien heraus erwachsen dann Regelungen etc., die freilich auch noch von anderen Kriterien geleitet sind:

  • es gibt eben nicht nur die „physische Gesundheit“, sondern viele leiden auch unter Einsamkeit und Isolation
  • wie geht „distance learning“, wenn wir nur unzureichend darauf vorbereitet sind – und welche Konsequenzen für das Bildungswesen hat das „Einfrieren gesellschaftlichen Lebens“
  • es gibt wirtschaftliche Fragestellungen, die enorm sind – manche Fragestellungen können wir derzeit erahnen: Arbeitslose, Kurzarbeit, zahlungsunfähige Betriebe usw.
  • da das Virus unbekannt ist, gibt es darüber erst erste Forschungen etc. – wie also sind Entscheidungen zu treffen: welche Fakten werden herangezogen, sind die gesetzten Maßnahmen wirklich der Situation und der Not entsprechende?

Wenn ich auf unsere kirchlichen Entscheidungen der letzten Wochen blicke, die – auch deswegen weil es eben die sichtbarste und mit dem Begriff „Kirche“ am ehesten in Verbindung gebrachte Form des Lebens ist – hauptsächlich gottesdienstliche Fragestellungen betreffen, dann könnte alles auf diesem Hintergrund, vor allem ausgehend von den Grund-Prinzipien durchbuchstabiert werden und bedeutet dann eben unter anderem:

  • in Kirchen – weil sie geschlossene Räume sind und weil dort bei Gottesdiensten längere Zeit mit denselben Personen, meist nicht aus demselben Haushalt, gemeinsam gesprochen und gesungen wird: größere Sicherheitsmaßstäbe – und daher 2 m Abstand voneinander, insgesamt 1 Person auf 10 m2 – und das wiederum ist ein Unterschied zu Geschäften, wo die Kontakte mit anderen Personen eher kurzzeitig und wechselnd sind;
    und – wo es möglich ist – von vorneherein Vermeidung von Situationen, in denen Menschen aus verschiedensten Gegenden zusammenkommen, damit ggf. die Virusausbreitung nicht vorangetrieben wird: daher eben für „besondere Feste“ wie Trauungen [übrigens auch staatlich] und Taufen Beschränkung der Zahl der Feiernden.
    Anders ausgedrückt: dass Gottesdienste unter den eben genannten prinzipiellen Möglichkeiten derzeit überhaupt erlaubt werden – mit mehr als 10 Personen – ist die Ausnahme und nicht die Regel, von der andere abgeleitet werden könnten. Dies zu kommunizieren ist sehr schwer, auch deswegen, weil jeder von uns von den Bildern geprägt ist, die er im Kopf und über viele Jahre „abgespeichert“ hat. Das geht auch mir so – und ich musste auch in den vergangenen Wochen so manches „lernen“ …
  • im Freien gelten daher derzeit die „üblichen Regeln“
    Prinzipiell gilt es dort mit den Aerosolen ähnlich, da aber durch den Luftzug (Wind) mitunter zu rechnen ist, ist es nicht so
    Dass wir Bischöfe hier für die Feier von Gottesdiensten in Austausch mit den Verantwortlichen sind, darf uns geglaubt werden. Dass wir als Institution, die Menschen „zusammenbringt“ aus verschiedenen Generationen und verschiedenen „Weltgegenden“ eben da nicht von vornherein auf Ausnahmen pochen können, muss uns auch bewusst sein, denn: jede Organisation hat ihre eigenen Notwendigkeiten. – Dass freilich bei uns auch die Religionsfreiheit als Menschenrecht ins Treffen geführt werden kann, stimmt; zugleich ist auch zu ergänzen, dass dennoch die Verantwortung einzukalkulieren ist, dass eben ein Virus, was Ansteckungsgefährdungen anlangt, wohl nicht unterscheiden wird, aus welchem Grund Menschen zusammenkommen.
  • Dass dann so manches eben – scheinbar oder doch real (?) – widersprüchlich ist, ist nicht zu vermeiden, wie etwa:
    * die Öffnung von Gaststätten mit 15. Mai ist eben auch die Ausnahme von der Regel und kann daher nicht als Vergleich herangezogen werden*
    * Demonstrationen unterliegen dem Versammlungsrecht und sind im Freien unter besonderen Auflagen erlaubt; vom Versammlungsrecht aber sind gottesdienstliche Formen explizit ausgenommen und daher wieder analog zu Veranstaltungen zu sehen etc.

Wie also sollen nun Regelungen aussehen, die wir herausgeben? –

  • Im Grunde wäre es das Sinnvollste, wenn die Grundprinzipien klar sind. Sind sie es? Und: ist jeder fähig, die entsprechenden Schlüsse daraus zu ziehen?
    Andererseits steckt der „Teufel“ im Detail und man denkt einfach nicht – ohne Vorwurf gesagt- dass in eingespielten Abläufen, wie etwa bei der Bereitung der Gaben für die Feier der Eucharistie – unter Umständen -zig Hände und damit unterschiedliche Personen im Spiel sind, die eine Verbreitung des Virus begünstigen könnten – in Kroatien etwa hat ein zum damaligen Zeitpunkt symptomfreier Priester Sonntagsmessen gefeiert und Kommunion gespendet, war aber bereits ansteckend – rund 1.000 Personen mussten danach in Quarantäne gehen …
  • Daher wurden wir – auch von den Priestern – aufgefordert, ziemlich detaillierte Regelungen herauszugeben. Letztere haben wieder den Nachteil, dass man die Grundprinzipien aus dem Auge zu verlieren und in unselige Kasuistik abzugleiten droht, etwa in die Frage: „Wieso bei Trauungen nur 10, bei Jubelhochzeiten aber die ’normale‘ Anzahl?“ Nur weil manches erlaubt ist bzw. scheint, muss es noch nicht sinnvoll sein [Stichwort etwa Schutz der Risikogruppe bei Goldenen Hochzeiten] und nur weil es nicht kontrolliert wird ist es auch nicht automatisch erlaubt …
  • Auch die Idee bei „Richtlinien“ zu ergänzen, dass „kreativ“ mit diesen umzugehen ist, löst die Fragestellungen nicht aus: können Richtlinien wirklich alle nur denkbaren Fälle abdecken? Und: die einen brauchen klare Geländer, an denen sie sich entlanghanteln können, um gut und frei zu sein. Für andere wiederum ist jede Regelung schon Einschränkung der persönlichen Freiheit …
    Der langen Rede kurzer Sinn: wie man es auch macht, es ist „sicher“ falsch, aber wehe, du machst gar nichts …

Auch hier wird etwas deutlich, dass eigentlich gerade dann wichtig wäre, wenn – so wie wir jetzt in dieser Krisenzeit – angesichts herausfordernder Situationen eigentlich wenig Zeit bleibt, nämlich dass Kommunikation und damit Zeit, Zeit, Zeit und Geduld, Geduld, Geduld nötig ist … Und auch Vertrauen, dass man/frau sich dabei etwas gedacht hat …