Wage zu träumen XII

Wir werden in ein paar Monaten wahrscheinlich viel einander verzeihen müssen[1]

Jens Spahn, Bundesgesundheitsminister von Deutschland äußerte diese Worte Ende April, während des ersten Lockdowns und hatte dabei sicher im Blick, dass sich die Entscheidungen, die Regierende zu treffen hatten (und haben), angesichts der völlig neuartigen Situation dieser Pandemie im Nachhinein da und dort als zu streng, zu hart oder gar falsch herausstellen könnten; freilich kann dies auch auf jene hin gelesen und interpretiert werden, die all das, was mit Corono zusammenhängt, nicht wahrhaben wollen. Wie recht er doch hatte und hat!

Auch wir österreichischen Bischöfe haben in unserem pfingstlichen Hirtenwort eine Passage aufgenommen, in der wir um Verzeihung bitten für die enge Sicht und Fokussierung, die wir in den ersten Wochen der Pandemie auf die Liturgie gehabt haben – zumindest in der Wahrnehmung von außen.[2] Andererseits ist es die – menschliche – Erfahrung, dass in Zeiten der Krise und der besonderen Herausforderungen der Mensch alle seine Kräfte konzentriert und daher auch von einer Art „Tunnelblick“ geleitet wird. Ich selbst erinnere mich an eine herausfordernde Situation an einer meiner Dienstorte: ich war unterwegs einem Mann begegnet, der polizeiliches Betretungsverbot hatte zu einem Haus, in dem ich wohnte. Er begleitete mich zu meinem Wohnort und stellte sich dann dort direkt vor die Eingangstüre. Vor lauter Aufregung und Konzentration auf diese Herausforderung war ich fast wie gelähmt und nicht fähig, die mir für den Fall der Fälle übergebene und eingespeicherte Rufnummer der nächsten Polizeidienststelle zu wählen.

Ja: wir haben einander viel zu verzeihen – und nur mit einem barmherzigen Blick können wir an einer Gesellschaft bauen, die wirklich ernst macht mit der Würde aller Menschen. Unser Papst hat in vielen seiner Schriften der letzten Jahren diesen Zusammenhang in unterschiedlicher Art und Weise betont. Dafür bin ich ihm zutiefst dankbar. Ich selbst versuche – so gut es geht – auch dem entsprechend zu leben: ich weiß um so manche Unausgewogenheit in der Art meines Denkens, Redens und Handelns. Ich hoffe aber zugleich, dass es mir immer wieder gelingt, einen „Pakt der Barmherzigkeit“ den anderen gegenüber zu leben, die da und dort vielleicht von mir enttäuscht waren und sind. Diese Situationen werden gleichsam am Abend beim Schlafengehen dem himmlischen Vater anvertraut, um am nächsten Morgen den Menschen wieder „ganz neu“ begegnen zu können – ohne im Hinterkopf das eine oder andere an Dissonanzen zu haben.

Ohne die Vergebungsbereitschaft kann eigentlich kein Miteinander existieren. Gerade deswegen nehme ich so manche „tektonische Plattenverschiebungen“ mehr als nur am Rand wahr, die sich in der Art und Weise wie kommuniziert wird abspielen – nicht nur im virtuellen Raum. Und ich gestehe: auch mir reißt mitunter der Geduldsfaden. Zugleich merke ich, wie wichtig eine Art und Weise des geschwisterlichen Umgangs notwendig ist bzw. wäre, um gemeinsam voran zu kommen – und jede/r von uns weiß, wie es unter Geschwistern mitunter zugeht. Da ist auch so manches an Neubeginn und Versöhnungsbereitschaft notwendig; mein persönlicher Beitrag ist dabei mein ehrliches Bemühen, auch Fehler einzugestehen und diese beim Namen zu nennen. Das kann natürlich als Schwäche ausgelegt werden, nimmt aber das Menschsein aller ernst: wir sind endlich und nicht vollkommen.

Lasst uns daher versöhnt miteinander leben (lernen)!


[1] Bundesgesundheitsminister Jens Spahn am 21.4.2020: https://www.welt.de/vermischtes/article207443999/Das-Update-zur-Corona-Krise-Wir-werden-viel-verzeihen-muessen-sagt-Jens-Spahn.html

[2] https://www.bischofskonferenz.at/dl/NkKNJmoJKknMJqx4KJKJKJKLoKNO/Hirtenwort_Bischoefe_Pfingsten2020.pdf