Was Europa braucht

Noch einmal Papst Franziskus. Er hat den Karlspreis verliehen bekommen. Dr. Florian Mittl, Vizepräsident der steirischen Katholischen Aktion und im Hauptberuf Religionslehrer und Lehrbeauftragter an der KPH Graz hat die zentralen Aussagen dieser Ansprache vom 6. Mai 2016 zusammengefasst und mir zur Verfügung gestellt:

„Sehr verehrte Gäste,
Die Kreativität, der Geist, die Fähigkeit, sich wieder aufzurichten und aus den eigenen Grenzen hinauszugehen, gehören zur Seele Europas. Im vergangenen Jahrhundert hat es der Menschheit bewiesen, dass ein neuer Anfang möglich war. Die Gründerväter des europäischen Projekts legten das Fundament für ein Bollwerk des Friedens, ein Gebäude, das von Staaten aufgebaut ist, die sich nicht aus Zwang, sondern aus freier Entscheidung für das Gemeinwohl zusammenschlossen und dabei für immer darauf verzichtet haben, sich gegeneinander zu wenden. Nach vielen Teilungen fand Europa endlich sich selbst und begann sein Haus zu bauen.
Heute jedoch scheint jenes Klima des Neuen, jener brennende Wunsch, die Einheit aufzubauen, immer mehr erloschen. Wir Kinder dieses Traumes sind versucht, unseren Egoismen nachzugeben, indem wir auf den eigenen Nutzen schauen und daran denken, bestimmte Zäune zu errichten. Wir erleben heute ein Europa, das versucht ist, eher Räume zu sichern und zu beherrschen, als Inklusions- und Transformationsprozesse hervorzubringen; ein Europa, das sich „verschanzt“, anstatt Taten den Vorrang zu geben, welche neue Dynamiken in der Gesellschaft fördern.
Was ist mit dir los, humanistisches Europa, du Verfechterin der Menschenrechte, der Demokratie und der Freiheit? Was ist mit dir los, Europa, du Heimat von Dichtern, Philosophen, Künstlern, Musikern, Literaten? Was ist mit dir los, Europa, du Mutter von Völkern und Nationen, Mutter großer Männer und Frauen, die die Würde ihrer Brüder und Schwestern zu verteidigen und dafür ihr Leben hinzugeben wussten?
Mehr denn je regen die Gründerväter heute an, Brücken zu bauen und Mauern einzureißen. Ich glaube, dass Idee und Seele Europas nur dann weiterbestehen können, wenn es gelingt, einen neuen, auf Integration und Dialog beruhenden Humanismus hervorzubringen.
Die europäische Identität ist und war immer eine dynamische und multikulturelle Identität und wir sind aufgefordert, eine Integration zu fördern, die in der Solidarität die Art und Weise findet, wie die Dinge zu tun sind, wie Geschichte gestaltet werden soll. Es geht um eine Solidarität, die nie mit Almosen verwechselt werden darf, sondern als Schaffung von Möglichkeiten zu sehen ist, damit alle Bewohner unserer – und vieler anderer – Städte ihr Leben in Würde entfalten können.
Wenn es ein Wort gibt, das wir bis zur Erschöpfung wiederholen müssen, dann lautet es Dialog. Die Kultur des Dialogs impliziert einen echten Lernprozess sowie eine Askese, die uns hilft, den Anderen als ebenbürtigen Gesprächspartner anzuerkennen, und die uns erlaubt, den Fremden, den Migranten, den Angehörigen einer anderen Kultur als Subjekt zu betrachten, dem man als anerkanntem und geschätztem Gegenüber zuhört. Heute ist es dringend nötig, „Koalitionen“ schaffen zu können, die nicht mehr nur militärisch oder wirtschaftlich, sondern kulturell, erzieherisch, philosophisch und religiös sind. Koalitionen, die herausstellen, dass es bei vielen Auseinandersetzungen oft um die Macht wirtschaftlicher Gruppen geht. Es braucht Koalitionen, die fähig sind, das Volk vor der Benutzung durch unlautere Ziele zu verteidigen. Rüsten wir unsere Leute mit der Kultur des Dialogs und der Begegnung aus.
Der Dialog und alles, was er mit sich bringt, erinnern uns daran, dass keiner sich darauf beschränken kann, Zuschauer oder bloßer Beobachter zu sein. Mit den Worten Konrad Adenauers: »Die Zukunft der abendländischen Menschheit [ist] durch nichts, aber auch durch gar nichts, durch keine politische Spannung so sehr gefährdet wie durch die Gefahr der Vermassung, der Uniformierung des Denkens und Fühlens, kurz, der gesamten Lebensauffassung und durch die Flucht aus der Verantwortung, aus der Sorge für sich selbst.«
Mit dem Verstand und mit dem Herz, mit Hoffnung und ohne leere Nostalgien, als Sohn, der in der Mutter Europa seine Lebens- und Glaubenswurzeln hat, träume ich von einem neuen europäischen Humanismus. Ich träume von einem jungen Europa, das fähig ist, noch Mutter zu sein: eine Mutter, die Leben hat, weil sie das Leben achtet und Hoffnung für das Leben bietet. Ich träume von einem Europa, das sich um das Kind kümmert, das dem Armen brüderlich beisteht und ebenso dem, der Aufnahme suchend kommt, weil er nichts mehr hat und um Hilfe bittet. Ich träume von einem Europa, das die Kranken und die alten Menschen anhört und ihnen Wertschätzung entgegenbringt, auf dass sie nicht zu unproduktiven Abfallsgegenständen herabgesetzt werden. Ich träume von einem Europa, in dem das Migrantsein kein Verbrechen ist, sondern vielmehr eine Einladung zu einem größeren Einsatz mit der Würde der ganzen menschlichen Person. Ich träume von einem Europa, das die Rechte des Einzelnen fördert und schützt, ohne die Verpflichtungen gegenüber der Gemeinschaft außer Acht zu lassen. Ich träume von einem Europa, von dem man nicht sagen kann, dass sein Einsatz für die Menschenrechte an letzter Stelle seiner Visionen stand.“