Zur Entwicklung von Kirche bei uns (2)

Viel wird zur „Kirchenentwicklung“ gesagt. Auch in unserer Diözese ist befinden wir uns in dieser Spur des Evangeliums. – In loser Folge will ich hier auf verschiedene Wortmeldungen von mir – ausschnittsweise – hinweisen, um mir und uns die Fragestellungen in Erinnerung zu rufen, um die es dabei – umfassend gedacht – geht.
Wir sind als Kirche und Gläubige in dieser Welt mit diesen Herausforderungen unterwegs …

Aus dem Referat auf den verschiedenen Herbstwochen 2015

Ich
Wir leben aus dem, was uns auch geistesgeschichtlich über Jahrhunderte begleitet. Dankbar atmen wir die Luft der Freiheit des Individuums, die uns schon in der Heiligen Schrift begegnet. Jeder und jede ist persönlich angesprochen von Gott, wir sind einander geschenkt und dazu berufen, dies den Menschen um uns erfahrbar zu machen.[1] Derzeit erfahren wir aber auch – wohl auch aufgrund der sich immer komplexer gestaltenden Welt – einen Schub mitunter krankhaften Individualismus‘, der das Heil und die Welt nur mehr bei und in sich sucht, und daher sich von den anderen abschottet[2]. Die Frage nach dem „Ich“, eingebettet in das Wir, stellt sich mit Vehemenz neu.[3] Der Rückzug auf sich selbst – und davon sind nicht nur Einzelpersonen, sondern auch Institutionen betroffen – scheint der einzige Ausweg zu sein.[4] Auch wenn ich nicht weiß, wer ich wirklich bin: mich abzugrenzen ist zunächst einmal das Logischste. Durch das Internet und die neuen Kommunikationsmittel und -techniken sowie die sogenannten „sozialen Medien“ verstärkt sich dieses Fragen. Ich behaupte sogar, dass Unverständnis anderen gegenüber wächst – sichtbar unter anderem in den härter werdenden Tönen im Miteinander, und da meine ich nicht nur Fremdenfeindlichkeit, sondern auch den normalen Umgangston etwa unter uns. All das sage ich im Wissen um die vielen, vor allem junge Menschen, die sich engagieren und Hand anlegen, die nicht fragen, sondern einfach helfen wollen.

An dieser Stelle sage ich all jenen ein Danke, die sich in unserer Steiermark aufmachen, um Sinn und Wert zu verbreiten, um damit jenes „Du bist mein geliebter Sohn, meine geliebte Tochter, unendlich viel wert!“ hautnah erfahrbar werden zu lassen inmitten einer Welt, die im Kleinen der Familien etc. oft schon mehr als zerrissen und uneins erscheint.

Zugleich gilt es, dem Evangelium der Liebe, die Gott ist, noch deutlicher zum Durchbruch in unserer Gesellschaft zu verhelfen, damit Identität nicht weiterhin aus Abgrenzung, sondern aus der vorangehenden Bejahung durch Gott als Hingabe erfahren wird. Was heißt dies für uns als Amtsträger in der Kirche, geweiht oder nicht, was für uns als Pfarre und Gemeinschaft, für uns als Kirche in der Steiermark?

Familie
Ein weiterer Grundton, den ich höre, ist jener der Familie. Dieser ist freilich nicht neu – in ganzheitlicher Blick auf die Botschaft der Bibel macht auch – heilsam für die heutige Debatte – deutlich, dass im Zusammenleben der Menschen in Familien Gott Heil in unterschiedlichsten Konstellationen geschaffen hat, allein der Blick auf den Stammbaum Jesu sei dazu in Erinnerung gerufen. Gelingen, Brüchigkeit und Scheitern der Keimzelle von Gesellschaft und Kirche begleiten uns die Jahrhunderte herauf.[5] An der Schwelle zur kommenden Bischofssynode, die vor allem in unseren Breiten mit vielen Erwartungen zu einigen wenigen Fragestellungen verbunden ist, wird das gesamte Feld von Ehe und Familie neu vor uns aufgebreitet.

Ein Danke hier an jene, die sich in unserer Diözese über Jahrzehnte herauf mühen, Gelingen und auch Herausforderungen in diesem sensiblen Bereich menschlichen Daseins zu begleiten; und mitunter auch feststellen (müssen): „Vielfach werden wir mit der frohmachenden Botschaft, die uns anvertraut ist, nicht gehört.“ Daher erwachsen mir auch hier aus dem Hinhören einige Fragen: „Ist die Rede von ‚Ehe‘ und ‚Familie‘ für uns als Diener und Dienerinnen der Kirche Evangelium? Oder sind wir Menschen, die nur das Scheitern im Blick haben und sich in der Meinung förmlich mitreißen lassen, sodass zunächst mal scheinbar ‚alles den Bach hinuntergegangen‘ zu sein scheint?“ Diese Frage zu stellen bedeutet für mich nicht, all den Herausforderungen auszuweichen, die sich auf dem Gebiet des Miteinanders stellen; wer meine Familie kennt und meinen Dienst, den ich die Jahre herauf so gut es geht auszuüben versuchte, der weiß auch darum, dass diese Dauerthemen für mich waren. Und gerade deswegen: Lassen wir uns wirklich auf die Vielfalt ein, die uns in den Fragen des Miteinanders von Menschen begegnet, oder meinen wir, dass Regeln, egal ob lax oder rigoristisch, angewendet und verkündet, ausreichend für ein tragfähiges Lebensfundament sind? Nehmen wir als positive Herausforderung für unser Denken und unsere Seelsorge wahr, wie viele Menschen sich nach einer stabilen Beziehung in Familie und Werten wie Treue etc. sehnen? Was bieten wir all jenen an, die das Miteinander in Liebe wagen – trotz allem, was im Umfeld des eigenen Daseins auch danebengegangen sein mag? Wo – um es provokant zu formulieren – schätzen wir, dass jene, die etwa auch bewusst „ja“ sagen zu Kindern, eigentlich uns evangelisieren?

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[1] Paulus etwa redet von den Charismen als Gaben, die wir haben, damit sie anderen nützen, nicht um uns selber zu befriedigen. Christliche Existenz ist immer Pro-Existenz, Dasein für, so wie JHWH sich im Dornbusch offenbart: „Ich bin da für euch“ und wie es auch Jesus gelebt und durchlitten hat. Am deutlichsten wird diese „Grundhaltung“ christlichen Lebens wohl in Phil 2 mit dem Christushymnus besungen.

[2] Papst Franziskus, Evangelii gaudium 2: „Die große Gefahr der Welt von heute mit ihrem vielfältigen und erdrückenden Konsumangebot ist eine individualistische Traurigkeit, die aus einem bequemen, begehrlichen Herzen hervorgeht, aus der krankhaften Suche nach oberflächlichen Vergnügungen, aus einer abgeschotteten Geisteshaltung. Wenn das innere Leben sich in den eigenen Interessen verschließt, gibt es keinen Raum mehr für die anderen, finden die Armen keinen Einlass mehr, hört man nicht mehr die Stimme Gottes, genießt man nicht mehr die innige Freude über seine Liebe, regt sich nicht die Begeisterung, das Gute zu tun. Auch die Gläubigen laufen nachweislich und fortwährend diese Gefahr. Viele erliegen ihr und werden zu gereizten, unzufriedenen, empfindungslosen Menschen. Das ist nicht die Wahl eines würdigen und erfüllten Lebens, das ist nicht Gottes Wille für uns, das ist nicht das Leben im Geist, das aus dem Herzen des auferstandenen Christus hervorsprudelt.“

[3] Schon Anfang der 90iger Jahre fragte Klaus Hemmerle bei den St. Georgener Gesprächen (in: Leben aus der Einheit. Eine theologische Herausforderung, 20): „Gelingt heute noch so etwas wie Identität mit sich selbst? Schaue ich nicht in ein fremdes Gesicht, wenn ich in den Spiegel schaue? Leben von Menschen ist heute oft in so ungezählte Funktionen und Rollen zergliedert, daß ein verbindender roter Faden fehlt. Ich komme von einer Rolle in die andere, ich stürze von einer Erfahrung in die andere, und ich bin mir selber wie ein Silbenrätsel, das ich nicht mehr zu einem Wort zusammengesetzt bekomme. Was geschieht in einer Welt, in der wir uns nicht nur voneinander entfremden, sondern uns selbst fremd bleiben? Ich komme mir selbst nur auf die Spur, wenn ich nach der Einheit meines Lebens suche, wenn ich suche, die Einheit meines Lebens zu leben.“
Später (60-62) führt er ausführlicher aus:“Wir sind täglich so vielen Informationen ausgesetzt, in so viele unterschiedliche Welten hineinversetzt, von so vielen verschiedenen Ansprüchen in Beschlag genommen, daß wir, überwältigt von alledem, kaum mehr eine glaubwürdige und tragfähige Einheit des Ganzen in unserer Person, in unserem Leben vorfinden. Es gibt da zumindest drei Strategien, in denen wir spontan versuchen, mit dieser Ohnmacht fertig zu werden, die indessen alle nicht bis zur Einheit des Lebens und des Selbstseins durchdringen.

Die erste Strategie: Ich lasse nur noch selektive Wahrnehmung bei mir selber zu. Ich ignoriere vieles von dem, was mir begegnet, schotte mich ab gegen bestimmte Erfahrungen und Bereiche der Wirklichkeit und entwickle gleichzeitig Reaktionsmuster, die ich nicht mehr an der Begegnung mit der Sache oder der Person ausweise, sondern als unabänderliche Vorwegnahmen und Vor-Urteile in mein Leben einbringe. Im gar nicht so weit entfernt liegenden Extremfall führt das zur Entwicklung von Ideologien. Nicht mehr aus der Öffnung für die Sache, nicht mehr aus der nie abgeschlossenen Begegnung mit der Wirklichkeit, sondern aus „Not-wehr“ gegen das „Zuviel“ und „Zu-Kompliziert“ bestimme ich meine Weise, mit dem Nächsten, mit der Geschichte, mit der Welt, mit den Werten und Wirklichkeiten umzugehen. Ein Stück weit geht es nicht anders, wird der Einwand nicht weniger lauten. Aber die Resignation, daß es so sei, schläfert die Gegenkräfte gegen gefährliche Ideologiebildungen bedrohlich ein.

Die zweite Strategie möchte ich mit dem Wort „Reaktionsspaltung“ beschreiben: Ich lebe auf verschiedenen Bühnen und spiele auf ihnen nicht nur verschiedene Rollen, sondern lebe auf ihnen auch unterschiedliche Einstellungen und Grundentscheidungen. Ich bin im Gottesdienst der frömmste Mensch – aber in meinem politischen Verhalten entdeckt niemand etwas von meinem Glauben. Ich bin Protagonist der Familienpolitik – aber wehe, wenn jemand zuhause hinter die Kulissen schaut. Die Welt wird aufgespalten in verschiedene Lebenswelten, in ihnen entwickle ich verschiedene Verhaltensweisen, aber eine gegenseitige „Aussetzung“ meiner Einstellungen aneinander, ein Suchen nach einer umgreifenden Einheit unterbleiben.

Verwandt damit und im Ansatz doch verschieden davon ist eine dritte Strategie: Spaltung meiner Lebenszeit. Die Intensität der Erfahrungen, die Macht der Bedürfnisse und die Überforderung meiner Kräfte des Durchhaltens und Bestehens sind zu stark, um einen durchgehenden und durchtragenden Lebenssinn zu gewährleisten. Das Alles wird aufgelöst in den beliebigen Ausschnitt, die Zeit garantiert nicht mehr die gefügte Einheit des Ganzen, sondern erschöpft sich in der pragmatischen Bewältigung des Jeweils. Lebensformen, Lebensbeziehungen, Lebensentscheidungen wird der Anspruch und Sinn von Endgültigkeit nicht mehr zuerkannt. Die Einheit und Beständigkeit des Ich, des Charakters, der Biographie werden grundsätzlich in Frage gestellt. Genügt es nicht, im Jeweils innerlich plausible Erfahrungen zu machen, sich ihnen anzuvertrauen und sie gelassen wieder aufzugeben, wenn sich Neues und anderes zeigt? Erscheint nicht alles andere als Ideologie, als künstlicher Überbau? „Alles“ heißt immer wieder „etwas Neues“; so werden Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht in eine Konsequenz und Kohärenz hinein zusammengebunden, sondern sie flottieren im Wellenspiel der je neuen Kombinationen.

Dies alles ist nicht aufgeführt, um über die Gewissenlosigkeit, die Schlechtigkeit und Dekadenz unserer Zeit zu lamentieren. Tatsächliche Überforderungen und Ratlosigkeiten treiben in die genannten Richtungen, und es gilt durchaus, die Anfragen an klassische und überlieferte Seh- und Lebensweisen zuzulassen. Dennoch bleiben die Fragen: Wer bin ich? und: Was ist die Welt? Selbstverlust, Weltverlust, Verlust jener Solidarität, die Leben und Zukunft ermöglicht, können in der Tat nicht die Lösung sein.“

[4] Vgl. Franziskus, Evangelii gaudium, 78-80:“78. Heute kann man bei vielen in der Seelsorge Tätigen, einschließlich der gottgeweihten Personen, eine übertriebene Sorge um die persönlichen Räume der Selbständigkeit und der Entspannung feststellen, die dazu führt, die eigenen Aufgaben wie ein bloßes Anhängsel des Lebens zu erleben, als gehörten sie nicht zur eigenen Identität. Zugleich wird das geistliche Leben mit einigen religiösen Momenten verwechselt, die einen gewissen Trost spenden, aber nicht die Begegnung mit den anderen, den Einsatz in der Welt und die Leidenschaft für die Evangelisierung nähren. So kann man bei vielen in der Verkündigung Tätigen, obwohl sie beten, eine Betonung des Individualismus, eine Identitätskrise und einen Rückgang des Eifers feststellen. Das sind drei Übel, die sich gegenseitig fördern.

  1. Die Medienkultur und manche intellektuelle Kreise vermitteln gelegentlich ein ausgeprägtes Misstrauen gegenüber der Botschaft der Kirche und eine gewisse Ernüchterung. Daraufhin entwickeln viele in der Seelsorge Tätige, obwohl sie beten, eine Art Minderwertigkeitskomplex, der sie dazu führt, ihre christliche Identität und ihre Überzeugungen zu relativieren oder zu verbergen. Dann entsteht ein Teufelskreis, denn so sind sie nicht glücklich über das, was sie sind und was sie tun, identifizieren sich nicht mit dem Verkündigungsauftrag, und das schwächt ihren Einsatz. Schließlich ersticken sie die Missionsfreude in einer Art Besessenheit, so zu sein wie alle anderen und das zu haben, was alle anderen besitzen. Auf diese Weise wird die Aufgabe der Evangelisierung als Zwang empfunden, man widmet ihr wenig Mühe und eine sehr begrenzte Zeit.
  2. Es entwickelt sich bei den in der Seelsorge Tätigen jenseits des geistlichen Stils oder der gedanklichen Linie, die sie haben mögen, ein Relativismus, der noch gefährlicher ist als der, welcher die Lehre betrifft. Es hat etwas mit den tiefsten und aufrichtigsten Entscheidungen zu tun, die eine Lebensform bestimmen. Dieser praktische Relativismus besteht darin, so zu handeln, als gäbe es Gott nicht, so zu entscheiden, als gäbe es die Armen nicht, so zu träumen, als gäbe es die anderen nicht, so zu arbeiten, als gäbe es die nicht, die die Verkündigung noch nicht empfangen haben. Es ist erwähnenswert, dass sogar, wer dem Anschein nach solide doktrinelle und spirituelle Überzeugungen hat, häufig in einen Lebensstil fällt, der dazu führt, sich an wirtschaftliche Sicherheiten oder an Räume der Macht und des menschlichen Ruhms zu klammern, die man sich auf jede beliebige Weise verschafft, anstatt das Leben für die anderen in der Mission hinzugeben. Lassen wir uns die missionarische Begeisterung nicht nehmen!“

[5] Hemmerle, Klaus, ebd. 18f.: „Wir leben in einer Zeit, in der es kaum noch Institutionen gibt, die den Menschen und auch die Institution Ehe und Familie stützen und schützen können. Ehe und Familie hat nicht mehr ihren Ort – wie einst einmal – in größeren Lebenszusammenhängen, die in konzentrischen Kreisen das Familienleben entlasteten. Heute kommt oft die ganze Wucht personaler Beziehung auf zwei alleine zu, ohne daß wirklich Dritte oder Vierte da sind. Die Welt hat sich so verändert, daß darin die Lebensbedingungen für Ehe und Familie überaus schwierig sind. Aber wie problematisch ist es für eine Gesellschaft, wenn die kleinste Zelle menschlichen Zusammenlebens nicht eine neue Einheit findet.“