Halbe Sachen

Ich bin in Jerusalem heute zum wiederholten Mal die „via dolorosa“ entlang gegangen. Mit Jugendlichen. Betend. Der Überlieferung nach soll auf diesem Weg Jesus das Kreuz hinaus auf Golgotha getragen haben. Der Kreuzweg endet in dem als Grabeskirche oder auch Auferstehungskirche bezeichneten Bauwerk. Auch dieses Mal bin ich mit innerer Ergriffenheit auf diesen kleinen Hügel in dieser bedeutsamen Kirche der Christenheit hinaufgestiegen – zu jenem Ort, an dem Jesus am Karfreitag sein irdisches Leben aufgrund des Todesurteils ausgehaucht hat. Daher wird mit Tod und Auferstehung Jesu für die Christen weltweit, egal welcher Konfession sie angehören, das Bedeutendste für ihren Glauben und ihr Leben ausgesagt: der Mensch gewordene Sohn Gottes hat bis zuletzt geliebt.

Erinnerung daran braucht gesonderte Zeit, braucht eine eigene Form, sie muss gefeiert werden. Im Jahreslauf wird dies besonders an den „Heiligen drei Tage des Leidens, Sterbens und Auferstehens unseres Herren“ begangen.
Der Auferstehungstag Christi – der Sonntag – als der erste Tag der Woche hat sich im Verlauf der Entwicklung des Christentums bald den Charakter eines geschützten Wochen-Feiertags „errungen“. Dem gleichsam in die Menschheit eingegrabenen Wochenrhythmus – sechs Tage Arbeit und ein Tag Ruhe – wurde damit ein sinnstiftender Inhalt beigefügt. In der Geschichte da und dort auftretende Versuche der Neuordnung einer Woche scheiterten. –
Weitere Feiertage im Laufe eines Jahres wurden und werden mitunter aufgrund besonderer gesellschaftlicher Rahmenbedingungen eingeführt. Zum Wohle der Menschen. Denn: die Menschen einer Gesellschaft müssen sich immer wieder ihrer selbst und damit auch ihrer Herkunft vergewissern. Feiern aber braucht Zeit. Feiern benötigt daher Frei-Zeit.
In modernen Gesellschaften werden allerdings zunehmend uralte Traditionen infrage gestellt; die Begründungen hierfür scheinen aufs erste plausibel. Die wesentliche Abfolge von Arbeits- und Ruhetagen aber ist nicht so einfach verhandelbar, weil sie der Entfaltung des Menschen in allen seinen Dimensionen dient. Dazu gehören unter anderem die Nichtverfügbarkeit des Menschen auch in seiner Dimension der Ruhe und des nicht Arbeitens – dies wird meines Erachtens auch schon in der Bezeichnung von Arbeit im lateinischen „neg-otium“ deutlich, eben als Verneinung des Müßiggangs.

In Österreich haben wir 13 „gesetzliche Feiertage“. Einige davon sind im zwischenstaatlichen Vertrag (Konkordat) zwischen der Republik und dem Heiligen Stuhl fixiert und damit gesetzliche Feiertage, auch wenn ihre Herkunft eindeutig dem Christentum zuzuordnen ist, dem sich ein Großteil der österreichischen Bevölkerung zugehörig fühlt (1.1., 6.1., Christi Himmelfahrt, Fronleichnam, 15.8., 1.11., 8.12., 25.12.) [1]. Manche andere Feiertage laden zur Selbstvergewisserung als Bürger eines Staates ein (vgl. Nationalfeiertag, 1. Mai). Wieder andere Feiertage sind zwar mit christlichen Festen in Beziehung, staatlich geschützt, aber – streng betrachtet – keine kirchliche Feiertage (Ostermontag, Pfingstmontag, 26.12.).
Wie am Beispiel des 8. Dezember deutlich wird, wird die Selbstvergewisserung einer Gesellschaft in jüngster Zeit immer wieder infrage gestellt; so etwa muss der Grund des österreichischen Nationalfeiertags immer und immer wieder in Erinnerung gerufen werden.
Nunmehr scheinen wir in der Debatte einen nächsten dieser Tage der Selbstvergewisserung infrage zu stellen. Durch ein Urteil des europäischen Gerichtshofes wurde es als diskriminierend angesehen, dass es nur für Angehörige bestimmter Religionsbekenntnisse einen Feiertag gibt, der nicht für die anderen gilt. Die Regelung für einen gesetzlichen Feiertag für Angehörige gewisser Religionsbekenntnisse ist aufgehoben. Durch unsere Bundesregierung wurde nunmehr einer First der Karfreitag in einen halben „gesetzlichen Feiertag für alle“ umgewandelt. Jedenfalls wird dieser Vorschlag nun unserer Volksvertretung zum Beschluss vorgelegt werden.

Als ich nun mit den Jugendlichen unserer Reise in diesen Tagen in der Grabeskirche am Hügel von Golgotha stand, sind mir all diese Gedanken und all die Stellungnahmen der vergangenen Tage durch den Kopf gegangen.

  • „Tragen wir Christen nicht mehr zur Selbstvergewisserung unserer Gesellschaft genügend bei?“ –
  • „Bedeuten Feiertage in unserer immer flexibler werdenden Gesellschaft eigentlich nur mehr Verhinderung wirtschaftlicher Prosperität?“ –
  • „Sind Feiertage wirklich nicht mehr als freie Tage?“ –
  • „Wie steht es um den Schutz und damit verbunden die Rechte von Minderheiten in unserer Gesellschaft?“

Alles zusammen – und hier müsste wahrscheinlich noch viel mehr benannt werden – würde sich meines Erachtens sehr gut dafür eignen, prinzipiell Fragen des Zusammenhalts unserer Gesellschaft, die immer pluraler wird, neu und vertieft zu stellen.
Gesetzliche Regelungen sind hierfür meines Erachtens zu wenig, wenn auch notwendig. Im konkreten Fall wurden zwar die am meisten Betroffenen gehört, scheinbar aber keine der von ihnen angebotenen Lösungen für gut befunden. Das, was nun das österreichische Parlament beschließen soll, ist aber alles andere als der Weisheit letzter Schluss. Gerade in einer Gesellschaft, die auch von wirtschaftlichen Interessen geleitet wird. Gerade in einer Gesellschaft, deren Bewohner sich großteils einer Religionsgesellschaft zugehörig fühlen. Gerade in einer Gesellschaft, die zunehmend nicht mehr das Verbindende zu suchen scheint, sondern in der scheinbar mit bloßem entweder-oder, bloßer Schwarzweißmalerei komplexe Fragestellungen beantwortet werden.
Wenn alle Beteiligten wirklich wollten, davon bin ich überzeugt, müsste es möglich sein, Lösungen zu finden, auch für die komplexesten Phänomene, die viele Interessen zusammenführen.
So zu agieren braucht Zeit, braucht hinhören, braucht ernst gemeinte gemeinsame Überlegungen, braucht Auseinandersetzung auch mit (politisch) Andersdenkenden usw.

Ich verstehe zutiefst die Argumente meiner evangelischen Brüder und Schwestern und teile sie auch. Man muss sie nicht in Erinnerung rufen, denn sie sind plausibel und die Evangelischen, die Methodisten und Altkatholiken haben gute Lösungen für alle vorgeschlagen. Auch die Debatten rund um den sogenannten „Einkaufsfeiertag“ – eigentlich ein „Unwort“ – 8. Dezember machen meines Erachtens nur deutlich, dass wir uns gemeinsam grundsätzlicher Fragen zu stellen haben.

Lassen wir die Chancen neuen Miteinanders in Österreich nicht einfach vorübergehen.
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[1] Ein weiterer dort vermerkter Feiertag (29.6.) wurde gestrichen, der 8.12. wurde mittlerweile innerhalb eines gewissen Zeitrahmens und unter gewissen Bedingungen für Einkaufsmöglichkeiten aufgegeben.

Krisengipfel

Heute Morgen ging ich mit einer steirischen Pilgergruppe den sogenannten „Palmsonntagweg“ – jenen Weg also, den Jesus bei seinem festlichen Einzug nach Jerusalem genommen hat. Wie viele Pilgergruppen beendeten auch die steirischen Jugendlichen diesen im Garten Gethsemane. Dort, an dem Ort, an dem das Leiden unseres Herrn Jesus Christus seinen Ausgang nahm, hielt ich persönlich inne, mitten unter vielen, die in ihrem Glauben gestärkt werden wollen.

An diesem Ort, an dem Jesus der biblischen Überlieferung nach Blut geschwitzt hat, wanderten meine Gedanken unwillkürlich zu den Opfern, denen sich in diesen Tagen die vom Papst einberufene Konferenz gegen den Kindesmissbrauch in der Kirche und für ihren Schutz widmet. Ihre tiefen Verwundungen, ihre Verletzungen, ihre stummen Schreie, ihr nicht gehört Werden, mit einem Wort ihr Leid habe ich dem an diesem Ort verehrten leidenden Herrn hingelegt. Leiden, das ihnen durch Vertreter der Kirche zugefügt wurde, von Menschen also, die durch ihr Dasein und durch ihr Wort berufen sind, für das Leben einzutreten. Hoffnungen, die in diese gesetzt wurden, sind durch Gewalt, durch sexualisierte Gewalt, durch spirituellen Missbrauch zerstört worden. Vielfach wurde ihnen nicht geglaubt. Zugleich dachte ich hier an einem Ort, an dem das Leiden „spricht“ auch an all jene, die in ihren Familien durch Angehörige und Freunde Ähnliches erfahren mussten und müssen. Ich habe auch all jene Ihm anvertraut, die in öffentlichen Einrichtungen, in Vereinen oder wo weiß ich sonst noch Angst und Schrecken durch Gewalt in ihren verschiedenen Ausformungen erlitten haben.
Ich hoffe, dass diese Initiative unseres Papstes, die eine weltweite darstellt, in Hinkunft ein gemeinsames Voranschreiten in unserer Kirche ermöglicht: in Österreich haben wir in den vergangenen Jahren einiges auf den Weg gebracht, was Prävention heißt, denn Kinder und Jugendliche sind uns anvertraut. Darin dürfen wir nicht nachlassen, auch weil wir es unserer Gesellschaft schulden. Ja mehr noch: wir haben den Schutz auszubauen!
In meinen persönlichen Begegnungen mit Opfern kirchlichen Missbrauchs ist mir mehr und mehr deutlich geworden, wie wichtig Zuhören, wie wichtig Hinschauen ist. Und: wie wichtig es ist, gemeinsam nach Wegen zu suchen, um Leben nach dem Leiden zu ermöglichen. Mit meinem Suchen diesbezüglich bin ich keineswegs ans Ende gekommen; wie überhaupt darüber hinaus meines Erachtens in der gesamten Gesellschaft erst damit begonnen werden muss, sich wirklich des Themas Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen anzunehmen. Das aber in großer Differenziertheit, nicht pauschal. Mit Wertschätzung. Mit Aufmerksamkeit. Mit offenen Augen und Ohren.

Dort im Garten von Gethsemane hielt ich aber auch inne, um derer zu gedenken, die Schuld auf sich geladen haben. Auch hier wissen wir uns als Verantwortungsträger in der Kirche herausgefordert. In vielerlei Hinsicht.
Wie gehen all jene, die Schuld auf sich geladen haben, mit dieser um? Werden sie einfach – um es drastisch auszudrücken – sich selbst überlassen? Wo gibt es Möglichkeiten eines Weges der Sühne, der Besserung? Was bedeutet es für uns als Gesellschaft, Menschen unter uns zu wissen, die eine solch schlimm Schuld auf sich geladen haben? Damit ich richtig verstanden werde: Diese Fragestellungen nehmen nichts weg von den ersten Gedanken, die ich hier geäußert habe, sind aber auch berechtigter Weise in die Debatte einzubringen. Um der Menschen willen. Hier ist zweifellos von Verantwortlichen viel verabsäumt, verschlampt und vertuscht worden. Um aber wirklich allen Fragestellungen rund um den Missbrauch in Autoritätsverhältnissen gerecht zu werden, müssen auch solche Fragen gestellt werden dürfen, bedarf es auf vielen Ebenen auch hierfür gemeinsamen Suchens. Hier sind dann meines Erachtens natürlich auch alle Fragen kirchlicher wie auch staatlicher und damit strafrechtlicher Maßnahmen anzusiedeln, die m.E. auch zu stellen sind – in all ihrer Komplexität (vgl. unterschiedliche Verjährungsfristen, Schutzalter, Verfahrensweisen, …).

Wie schwer sich viele in der Kirche – und wohl auch in der ganzen Gesellschaft – tun, sich allen Fragen in entsprechender Differenzierung zu stellen, poppt ohnedies immer wieder in den auch medial verarbeiteten kircheninternen Auseinandersetzungen auf. Leider wird dies dadurch deutlich. – Ob ich mich persönlich in den Herausforderungen meines Dienstes als Bischof in alledem immer richtig verhalten habe kann ich nur hoffen – es ist alles andere als leicht und alles andere als leicht auszuhalten. Jedenfalls bitte ich jene um Verzeihung, denen in der Kirche Leid zugefügt wurde. Ich werde mich jedenfalls mit meinen mir zur Verfügung stehenden Kräften bemühen, dass wir Kirche als Raum des erfüllten Lebens gestalten.

„Jesus, der du am Ölberg Blut geschwitzt hast, hilf uns in Kirche und Gesellschaft mehr uns unserer Verantwortung den Schwachen gegenüber bewusst zu werden und alles uns Mögliche daran zu setzen ihnen Heil und Heilung zu ermöglichen, damit jenen, die hier in Gethsemane am Ölberg Dich suchen, ihren Glauben wirklich gestärkt erhalten.“

Zur Entwicklung von Kirche bei uns (5)

Viel wird zur „Kirchenentwicklung“ gesagt. Auch in unserer Diözese ist befinden wir uns in dieser Spur des Evangeliums. – In loser Folge weise ich hier auf verschiedene Wortmeldungen von mir – ausschnittsweise – hinw, um mir und uns die Fragestellungen in Erinnerung zu rufen, um die es dabei – umfassend gedacht – geht.
Wir sind als Kirche und Gläubige in dieser Welt mit diesen Herausforderungen unterwegs …

Heute und hier nach der Lektüre der ersten 4 Teile ein neuer Gedankengang, der das dort Gesagte vertiefen möchte.

Als ich in den vergangenen Tagen die großen Linien der Gedanken auf der sogenannten „Pfarrerwoche“ zu Beginn meiner Amtszeit als Bischof 2015 wieder gelesen habe, ist mir deutlich geworden, dass viele Gedanken daraus auch heute gelten. Gerade angesichts neuester Herausforderungen, denen sich unsere Kirche derzeit zu stellen hat – es sei auf die neu aufgeflammte Debatte rund um den „Missbrauchsskandal“ hingewiesen, die sich nunmehr auch auf „spirituellen Missbrauch“ sowie Übergriffe auf Frauen und Ordensleute ausgedehnt hat, oder aber auch auf die mit Verve und dem Zeitgeist entsprechender (zu) einfache Schwarz-Weiß-Malerei veröffentlichter Meinung zu Finanzfragen und anderen Vorgängen in unserer Nachbardiözese Gurk – gilt es, den „Anker der Hoffnung“[1] vertieft auszuwerfen. [Nebenbei: auf einer meiner früheren Segeltörns ist mir bewusst geworden, dass „verankert“ sein alles andere bedeutet als „fix und unbeweglich“ festgemacht zu sein: Wind und Wellen können das verankerte Schiff durchaus in einem gewissen [Um]Kreis bewegen].

Und – das sei ganz besonders erwähnt: es geht um viele Fragen, die sich uns stellen und keineswegs „nur“ um die immer wieder, besonders in unseren Breiten vorgebrachten sogenannten „heißen Eisen“. Ich weiß: sie irritieren – und das gewaltig, auch weil sie keineswegs von allen und allezeit authentisch gelebt werden. Sie irritieren aber auch deswegen, weil sie – wie vieles andere in der Kirche – deutlich machen, dass es eben nicht um eine Botschaft geht bzw. gehen kann und darf, die wir uns „zurecht richten“. – Zugleich ergänze ich hier sofort, dass dies aus meiner Sicht keineswegs heißt, sich diesen Fragen nicht zu stellen. Was ich aber erbitte und in Erinnerung rufe: selbst wenn alle diese „Eisen“ geschmiedet wären, Kirche und damit die Frage jedes und jeder von uns, was denn unsere spezifische Berufung, was denn unser je spezifische Weg in der Nachfolge unseres Herrn ist, würde uns nicht erspart bleiben. Denn: die Form und Gestalt von Kirche, die viele von uns in Erinnerung haben, weil sie Wegbegleiter war und segensreich uns in die Spuren Jesu geführt hat, ist – nehmen wir den Heiligen Geist wirklich ernst – keineswegs die eine und ewige, wie in manchen Debattenbeiträge vorgegaukelt wird. Dies wird mir nicht nur durch mein Eintauchen in kirchliche Situationen der Weltkirche immer und immer wieder deutlich, dies ist auch – und ein kleiner Blick in die Geschichte reicht bei uns durchaus – vor Ort unserer Kirche von Graz-Seckau eingestiftet: Wenn ich etwa auf die mittlerweile 800 Jahre andauernde Geschichte unserer Diözese schaue, wird allein schon durch die unterschiedliche territoriale Ausdehnung der vormals „Seckau“ genannten Diözese deutlich, dass sich so manches verändert hat. Fragen von damals sind eben daher auch nicht Fragen von heute – und: Wenn das Wesentlich erhalten bleiben soll – und das bedeutet eben etwa die Botschaft des Evangeliums – dann braucht es Änderungen. Und: das, was kommt, ist nicht die Wiederholung des Vergangenen, ist nicht die „Wiederauferstehung“ einer Form von Kirche, die uns persönlich irgendwann einmal lieb war und die sicher auch viel Segen gebracht hat.

Mitunter scheint es mir so, dass die üblicherweise als „progressiv“ und (!) die üblicherweise als „traditionell“ apostrophierten kirchlichen Meinungsträger genau darin demselben Irrtum verfallen und „vergangene Zeiten“ festhalten wollen. Mehr noch: ein innerkirchlicher Kampf wird da mitunter ausgefochten, um nur ja die eigene Sicht als die einzig wahre und rechte darzustellen und andere, die sich auch redlich auf dem Weg der Nachfolge verstehen, in schiefes Licht zu tauchen oder – was noch schlimmer ist – abfällig zu behandeln, so als ob sie nicht „zu mir“ gehörten, weniger fromm seien oder gar auf dem Weg ins Verderben stünden [und damit erinnere ich an die großartigen Stellen beim Apostel Paulus im 1. Brief an die Gemeinde in Korinth wie auch im Brief an die Römer, wo Kirche als „ein Leib“ gezeichnet wird, der aus unterschiedlichen Gliedern mit unterschiedlichen Verantwortungen und damit auch Aufgaben gebildet ist, vgl. 1Kor 12,26: „Wenn [..] ein Glied leidet, leiden alle Glieder mit; wenn ein Glied geehrt wird, freuen sich alle Glieder mit“]. Die Bereitschaft, sich demütig unter das Wort Gottes zu stellen und damit der Glaube, dass ER uns führt, ist mehr denn je von jedem gefordert. „Alles andere wird dazugegeben“ (vgl. Mt 6,33). Ein solches Denken entbindet uns nicht davon, zu suchen, zu fragen, immer wieder neu aufzubrechen usw., verleitet aber nicht dazu, zu meinen: „Wenn sich einmal dieses und jenes so wie ich es mir vorstelle geändert hätte, wäre alles wieder in Ordnung …“. Eine solche sich selbst ehrlich wahrnehmende Haltung ist es, die innerkirchlich nottut – alles andere, und vieles was derzeit „abgeht“ lässt mich eher das wahrnehmen, verstärkt in mir das „ungute Gefühl“, dass es jenen, die solche Argumente nicht müde werden vorzubringen und als „die Rettung“ zu titulieren, um Macht und ihren persönlichen Machterhalt geht.

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[1] Eines der mir sehr ans Herz gewachsenen Tagesgebete im römischen Messbuch wird am 21. Sonntag im Jahreskreis gebetet: „Gott, unser Herr, du verbindest alle, die an dich glauben, zum gemeinsamen Streben. Gib, dass wir lieben, was du befiehlst, und ersehnen, was du uns verheißen hast, damit in der Unbeständigkeit dieses Lebens unsere Herzen dort verankert seien, wo die wahren Freuden sind.“

Zur Entwicklung von Kirche bei uns (4)

Viel wird zur „Kirchenentwicklung“ gesagt. Auch in unserer Diözese ist befinden wir uns in dieser Spur des Evangeliums. – In loser Folge will ich hier auf verschiedene Wortmeldungen von mir – ausschnittsweise – hinweisen, um mir und uns die Fragestellungen in Erinnerung zu rufen, um die es dabei – umfassend gedacht – geht.
Wir sind als Kirche und Gläubige in dieser Welt mit diesen Herausforderungen unterwegs …

Aus dem Referat auf den verschiedenen Herbstwochen 2015

Der Bischof ist mit auf dem Weg …
Natürlich werde auch ich den Weg offensiv mitgehen. Da wird wohl einiges versucht werden, einiges wird sich – so denke ich – auch nach langem Nachdenken vielleicht als Irrweg herausstellen. Aber: das „heilige Experiment“, das Gott mit der Kirche von Graz-Seckau gewagt hat und wagt, kann auch – vielleicht verstärkt? – von uns genutzt werden. Letzte Sicherheit werden wir in einer zutiefst durch das Vergehen dieser Welt verunsicherten Situation nie erreichen, auch deswegen, weil Gott selbst Lebendigkeit und damit wirkvoller Geist ist.

[…]

 … in der Diözese
Gemeinsam mit […] Generalvikar, Dr. Erich Linhardt […] gilt es, die Erfahrungsräume von Kirche in Pfarren, Gruppen, Gemeinden und Gemeinschaften, in kategorialen Seelsorgebereichen und Orden entsprechend den heutigen Anforderungen anzupassen.

Haben wir keine Angst zu sagen, dass etwas neu wird! Haben wir auch keine Angst davor, dass Versuche scheitern können. So etwa wird mit der Neuordnung der Grazer Stadtkirche ein für mich mutiges Experiment gewagt; ebenso sei nochmals an die vorgestellte Initiative in Richtung „missionarische Pfarren“ erinnert. Immerhin hat mir genau das auch der Vertreter des Papstes in Österreich bei meiner Weihe mitgegeben.

Wenn ich in den kommenden Monaten mit den Verantwortungsträgern der Regionen in Kontakt trete, dann soll aus diesem Hinhören noch stärker der Weg in die Zukunft geschärft werden. Ich werde mich dabei den Priestern und Diakonen sowie den anderen in der Seelsorge Angestellten besonders zuwenden. Zugleich werden die in unserer Diözese Verantwortung tragenden Gremien mit zugewiesenen Fragestellungen beauftragt werden, den benannten Inhalten entsprechend „Raum“ zu geben. Unter anderem stellen sich da folgende Fragen:

  • Zusammen in der Kirche leben: Dienste und Vollmachten der Getauften und der Amtsträger
  • Mitverantwortung auf den unterschiedlichen pastoralen Ebenen und in Bereichen der Kirche – vor Ort, in diözesanen Entscheidungen (vgl. Vorschläge der Dechantenkonferenz bei der Fortbildung in Brixen 2013, die unter anderem neue Aufgabenstellungen für die sog. „mittlere Ebene“ bedeuten, die bislang die 25 Dekanate darstellten)
  • gemeinsames Vorangehen im Suchen nach dem Willen Gottes unter Zusammenarbeit der Gremien
  • Arbeiten, die in den letzten Jahren unter Pastoralamtsleiter Mag. Johannes Freitag vorangetrieben wurden, gilt es zum Abschluss zu bringen, und zwar: „Was sind wesentliche Konkretisierungen, wenn wir von einer ‚Pfarre‘ reden, was gehört unbedingt dazu?“ Und: „Von welchen Werten und Grundhaltungen lassen wir uns in der Kirche von Graz-Seckau auf allen Ebenen leiten?“ […}
  • Die Frage nach der rechten und notwendigen Kommunikation untereinander und mit dem Ordinariat wird auch in den kommenden Jahren eine immer neu zu bedenkende wichtige Fragestellung sein.
  • Wenn der Pfarrer der erste Diener für das Leben derer ist, die in der Nachfolge Jesu Christi stehen: was ist wirklich der Dienst der Priester hierfür? Er ist sicher nicht „Guru“ und auch nicht einer, nach dessen spiritueller Pfeife getanzt werden muss …

… mit dem Ordinariat und den Verantwortungsträgern
Das Ordinariat mit seinen Dienststellen ist nicht die „Firmenzentrale“ der Diözese, es ist – wie es im Leitbild heißt – u. a. „Inspirations-, Service- und Kompetenzzentrum zum Nutzen der ganzen Diözese“, was natürlich mitunter auch heißen kann, an gesetzliche Grundlagen u. ä. m. erinnern zu müssen. Daher gilt es, wie überhaupt im Leben, auch hier inne zu halten, um Nachschau zu halten, wo dieses Ziel, als Amt des Ordinarius für die ganze Diözese zu arbeiten, noch weiter verbessert werden kann. Daher wird es wohl eine der vornehmsten Aufgaben unseres […] Generalvikars sein, die bereits benannten Fragestellungen für die Diözese auch im Ordinariat entsprechend zu stellen und voranzutreiben, etwa:

  • Zusammenspiel zwischen Ordinariat und Erfahrungsräumen von Kirche etwa in puncto
    – Kommunikation,
    – Subsidiarität usw.
  • Anpassung und Weiterentwicklung der Strukturen im Bischöflichen Ordinariat an die Anforderungen der Seelsorge in den nächsten Jahren.

… mit den Pfarrern und Priestern
Als die ersten Mitarbeiter des Bischofs hoffe ich, dass die „Freude am Evangelium“ durch Euch auch nach vielleicht entbehrungsreichen Jahren in der Seelsorge erhalten ist. Ich weiß: in der Gesellschaft tut sich so viel, dass es mehr als nur verständlich ist, wenn Priester glauben, wahrnehmen zu müssen, die Botschaft des Evangeliums „greife“ nicht mehr. Meine Erfahrung lehrte mich zunehmend, auf das zu blicken, was ist, und gemeinsam ernsthaft nach dem zu suchen, was in dieser Situation, mit diesen Menschen in diesem Sendungsauftrag von Gott gewollt wird. Diese Aufmerksamkeit ist notwendig. Ich weiß auch, dass durch viele Veränderungen im Leben unseres Dienstes, durch die sehr geringe Zahl nachwachsender Berufungen und anderes mehr, die Herausforderungen für die Priester andere geworden sind und vielfach als Be-, wenn nicht Überlastung empfunden werden. Ich bin versucht zu sagen, dass manches in der bislang gewohnten Form, Kirche zu leben und zu gestalten nicht mehr geht. Ich sage sogleich aber auch dazu und bitte darum, eine Umkehr in den Argumenten mitzuvollziehen, damit wir nicht vom Priester her Kirche denken, gestalten und bauen, sondern von Christus her und daher von jenen, die seinen Namen tragen. Ich möchte daher für jeden von uns einige persönliche Überlegungen mitgeben:

  • Wie lebe ich die Berufung ins Priestersein, in diese Lebensform? Mit wem tausche ich mich wirklich darüber aus – der Beichtvater scheint mir da zu wenig zu sein. Anders ausgedrückt: wen habe ich, mit dem ich über das, wie es mir persönlich geht, wirklich ins Gespräch komme und nicht bloß darüber, wie es mir in meinem Dienst geht?!
  • Wo sind jene, die an meiner Art, Evangelium zu leben, Feuer fangen? Jesus nachzufolgen, führt wohl alle zum erfüllten Dasein, auch zölibatär lebende Priester sind von dieser Verheißung nicht ausgenommen. Das Evangelium ist trotz allem, was an Kreuz zu benennen ist – Frohe Botschaft. Nehmen wir also auch an und ernst, dass Berufungspastoral die Grundmelodie allen kirchlichen Tuns ist und sind wir aufmerksam für jene, die nach einem entsprechenden Leben suchen? […] [Die] Botschaft Christi vermag gerade heute auch junge Leute zu begeistern. Wer begleitet sie weiter, wo werden ihre Fragen ernst- und angenommen?
  • Was lässt mich „brennen“? – Wir brauchen keine Angst haben, dass Gott geizig ist, Menschen zu rufen. Wir sind Arbeiter, die ernten! Wir müssen auch nicht ängstlich um unsere Kirche sein, denn ER ist ihr Herr und ER baut Kirche. Wir sind Diener dabei.
  • Wir wissen um die unterschiedlichsten „Typen“, die ER in diesen Dienst gerufen hat. Wir Priester geben damit ein sichtbares Zeichen für die Breite unserer katholischen Kirche ab, die ich nicht missen möchte. Wir sind aber als Seismographen für die Vorgänge in der Welt nicht davor gefeit, eng zu werden. Bewahren wir es uns oder lernen wir es, vielleicht neu, den Weg, den ein anderer in seiner Nachfolge als Priester geht und wählt, als den ihm entsprechenden Weg zu sehen. Lassen wir nicht voneinander! Gehen wir aufeinander zu, öffnen wir uns dem Bruder im selben Dienst neben mir und seien wir dankbar dafür, dass es so viele Wege gibt, Priester-Sein zu leben wie es eben Männer gibt, die ihr „Ja“ dazu gesagt haben. „Links“ und „rechts“, „progressiv“ und „konservativ“, „papsttreu“ oder „fortschrittlich“ sind keine Kategorien, in die wir uns einpassen lassen dürften bzw. dürfen. Wir brauchen auch keine Angst um uns zu haben, denn ER ist mit uns! – Es gibt freilich auch Grenzüberschreitungen in diesem sehr weiten Rahmen, die Korrekturen notwendig machen.

An dieser Stelle daher aus vollstem Herzen Danke und „Vergelt’s Gott!“ für Euren authentisch gelebten Weg der Nachfolge und Euren Dienst, mit dem und durch den in unserer Welt ein deutliches Signal gesetzt wird, dass der Auferstandene unter uns gegenwärtig ist und lebt.

… mit den anderen, die in der Seelsorge tätig sind
[…]

Ich weiß: in diesem Abschnitt wurden viele Fragen angerissen. Sie alle stehen unter dem großen Rahmen, im Heute unserer Zeit freudig Zeuge für das Evangelium zu sein. Deswegen sind diese zu stellen. Im Vertrauen darauf, dass ER die Kirche von Graz-Seckau leitet, können wir uns allen Anfragen stellen und aussetzen und müssen keine Angst haben. Denn: ich bin zutiefst davon überzeugt, dass die Botschaft des Evangeliums, die Botschaft der Kirche auch und gerade heute Brot für das Leben ist.[1]

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[1] Alle Frage- tlw. auch Infragestellungen bedeuten keineswegs zu behaupten, dass das Frühere schlecht war, dass jenes, was uns Jahrhunderte herauf, ausgehend von der Freiheit des Christenstums nach Konstantin, segensreich unterstützt hat, null und nichtig ist. Das kann und darf als solches stehen bleiben. Weil Gott immer einer ist, der „heute“ ist, gilt es dennoch, trotz allem, was uns wertvoll war und ist, nach dem zu fragen, welche Form Kirche heute bei uns braucht, um ihrer Sendung zu den Menschen, in der einen Welt, in ihrer Suche nach Identität und Einheit, in ihrem Suchen nach Lebensmöglichkeiten im Miteinander und in Frieden und Freiheit im gemeinsamen Haus einigermaßen gerecht zu werden. Ich bin mir sicher: Er baut auch heute an Seiner Kirche. Schön ist’s und wäre es, wenn wir unsere Berufung darin sehen, mit Ihm zu bauen.

Zur Entwicklung von Kirche bei uns (3)

Viel wird zur „Kirchenentwicklung“ gesagt. Auch in unserer Diözese ist befinden wir uns in dieser Spur des Evangeliums. – In loser Folge will ich hier auf verschiedene Wortmeldungen von mir – ausschnittsweise – hinweisen, um mir und uns die Fragestellungen in Erinnerung zu rufen, um die es dabei – umfassend gedacht – geht.
Wir sind als Kirche und Gläubige in dieser Welt mit diesen Herausforderungen unterwegs …

Aus dem Referat auf den verschiedenen Herbstwochen 2015

Glauben – persönliche Vertiefung der Christusbeziehung
Zuallererst muss hier jene unaufgebbare Beziehung in Erinnerung gerufen werden, die uns alle leben und in unserem Dienst arbeiten lässt. Es gilt zu glauben. „No na net“, höre ich einige sagen. „Wagen wir aber wirklich den Sprung, der Glauben bedeutet?“ Haben wir es uns nicht in so manchem sehr zurechtgerichtet? „Paroichia“, wovon sich der Begriff „Pfarre“ herleitet, bedeutet wörtlich übersetzt ‚Beisasse‘ und meint in seiner Bedeutung ‚Nachbarschaft‘. Eine Alternative für die Etymologie von Paroichia ist ‚das Wohnen eines Fremden in einem Ort ohne Bürgerrecht‘. In dieser Bedeutung (fremd, Fremde, Fremder) kommt der Begriff mehrfach im Neuen Testament vor (z. B. Lk 24,18; Apg 13,17; Eph 2,19; 1 Petr 1,17).Wie leben wir das? Was heißt in diesem Umfeld „sich selbst verlassen“, also „fremd sein“ und Gott alles anvertrauen? Was heißt „Glauben leben“? Es geht um mehr als Gottesdienste zu ordnen und entsprechend zu gestalten. Mitunter laufen wir meines Erachtens Gefahr, Leben der Kirche auf die Feier von Gottesdiensten zu reduzieren: Zum „Kerngeschäft“ gehören wesentlich auch noch andere Standbeine dazu. Glauben bedeutet auch die Wachsamkeit, die Aufmerksamkeit für das Evangelium, ein ständiges „Auf dem Sprung sein“. Ich hege den Verdacht, dass wir versucht sind, es uns „einzurichten“: wir arbeiten professionell, haben Geld, wir haben großartige Strukturen und viele, die hauptamtlich für uns arbeiten. Und genau damit habe ich selbst schon einen großen Fehler gemacht: nicht „für uns“, sondern „für die Menschen“ muss es heißen – es geht nicht um uns, um unseren Selbsterhalt, es geht um Gott und darum, dass Seine Herrschaft durch unser Zutun deutlicher Konturen annimmt inmitten der Menschheit, die uns umgibt. Also ist unser Dienst, uns selbst und unser Leben – ich nehme Anleihe an der Weiheliturgie – „unter das Geheimnis des Kreuzes“ zu stellen. Und daraus folgt, es anderen zu ermöglichen, ihr Leben in der Nachfolge Jesu Christi dem entsprechend persönlich und als Kirche gemeinsam zu gestalten.

Glauben im Leben – Gesellschaft gestalten
[…]
Haben wir keine Angst zu sagen, dass etwas neu wird! Haben wir auch keine Angst davor, dass Versuche scheitern können. So etwa wird mit der Neuordnung der Grazer Stadtkirche ein für mich mutiges Experiment gewagt; ebenso sei nochmals an die vorgestellte Initiative in Richtung „missionarische Pfarren“ erinnert. Immerhin hat mir genau das auch der Vertreter des Papstes in Österreich bei meiner Weihe mitgegeben.
[…]

Die Freude, heute Kirche zu sein[1]
Nun: Was heißt es, in den vielen Erfahrungsräumen von Kirche „die Freude des Evangeliums“ zu leben? Was heißt „Kirche im Kindergarten“, was bedeutet „der Auferstandene unter uns im Pfarrgemeinderat“, was heißt es, mit dem, der lebt, die Straßen und Dörfer anzuschauen, die in unserer Gegend sind? Wie gehen wir miteinander um, wenn wir von uns sagen, dass wir unterschiedliche Stärken, Charaktere und theologische Sichtweisen haben? Setzen wir unsere Lebens-Karte auf den, der das Haupt der Kirche ist, oder sind uns unsere eigenen Überlegungen und spirituellen Wege Maß, die wir als DienerInnen in der Kirche jede und jeder für sich leben? Leben wir „im“ anderen, „in“ der anderen, mit der wir von Gott in dieselbe Sendung geschickt sind, und was bedeutet dieses Leben für die Konkretionen in der Pfarre? Nicht der Pfarrer, nicht der Kaplan, auch nicht jemand anderer in der Seelsorge ist der Herr der Pfarre, so wie der Bischof nicht der Herr der Kirche ist … Sind wir wirklich dankbar dafür, dass wir in der Seelsorge der Steiermark beinahe 900 Religionslehrende, 1.800 Mitarbeitende in der Caritas, 460 Priester, 80 Ständige Diakone, 160 Pastoralassistenten, 185 PfarrsekretärInnen haben? So dicht war das Netz eigentlich selten in der Geschichte zuvor. Wenn ich dann noch die Ordens- und andere Gemeinschaften hinzunehme […]: da gibt es und da gilt es sehen zu lernen, wie viel Segen von diesen Gemeinschaften und Orten ausgeht – auch wenn es, was den Nachwuchs anlangt, nicht nur Freude gibt.

Brüder und Schwestern in Glauben! Gehen wir gemeinsam, gehen wir mit IHM voran in der Freude des Evangeliums! Und bitten wir jetzt um Seinen Geist für den Weg, den wir miteinander zurücklegen werden.

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[1] Vgl. u. a. auch die beiden Veröffentlichungen von Martin Werlen, dem früheren Abt von Einsiedeln, der als Gewissenserforschung wie so manch andere Schrift gut tut:

  • Martin Werlen: Heute im Blick: Provokationen für eine Kirche, die mit den Menschen geht. Ein geistlicher Weg in 100 Schritten, Freibrug: Herder 2014.
  • Martin Werlen: Miteinander die Glut unter der Asche entdecken, Einsiedeln 2012 (6. Aufl.).

Zur Entwicklung von Kirche bei uns (2)

Viel wird zur „Kirchenentwicklung“ gesagt. Auch in unserer Diözese ist befinden wir uns in dieser Spur des Evangeliums. – In loser Folge will ich hier auf verschiedene Wortmeldungen von mir – ausschnittsweise – hinweisen, um mir und uns die Fragestellungen in Erinnerung zu rufen, um die es dabei – umfassend gedacht – geht.
Wir sind als Kirche und Gläubige in dieser Welt mit diesen Herausforderungen unterwegs …

Aus dem Referat auf den verschiedenen Herbstwochen 2015

Ich
Wir leben aus dem, was uns auch geistesgeschichtlich über Jahrhunderte begleitet. Dankbar atmen wir die Luft der Freiheit des Individuums, die uns schon in der Heiligen Schrift begegnet. Jeder und jede ist persönlich angesprochen von Gott, wir sind einander geschenkt und dazu berufen, dies den Menschen um uns erfahrbar zu machen.[1] Derzeit erfahren wir aber auch – wohl auch aufgrund der sich immer komplexer gestaltenden Welt – einen Schub mitunter krankhaften Individualismus‘, der das Heil und die Welt nur mehr bei und in sich sucht, und daher sich von den anderen abschottet[2]. Die Frage nach dem „Ich“, eingebettet in das Wir, stellt sich mit Vehemenz neu.[3] Der Rückzug auf sich selbst – und davon sind nicht nur Einzelpersonen, sondern auch Institutionen betroffen – scheint der einzige Ausweg zu sein.[4] Auch wenn ich nicht weiß, wer ich wirklich bin: mich abzugrenzen ist zunächst einmal das Logischste. Durch das Internet und die neuen Kommunikationsmittel und -techniken sowie die sogenannten „sozialen Medien“ verstärkt sich dieses Fragen. Ich behaupte sogar, dass Unverständnis anderen gegenüber wächst – sichtbar unter anderem in den härter werdenden Tönen im Miteinander, und da meine ich nicht nur Fremdenfeindlichkeit, sondern auch den normalen Umgangston etwa unter uns. All das sage ich im Wissen um die vielen, vor allem junge Menschen, die sich engagieren und Hand anlegen, die nicht fragen, sondern einfach helfen wollen.

An dieser Stelle sage ich all jenen ein Danke, die sich in unserer Steiermark aufmachen, um Sinn und Wert zu verbreiten, um damit jenes „Du bist mein geliebter Sohn, meine geliebte Tochter, unendlich viel wert!“ hautnah erfahrbar werden zu lassen inmitten einer Welt, die im Kleinen der Familien etc. oft schon mehr als zerrissen und uneins erscheint.

Zugleich gilt es, dem Evangelium der Liebe, die Gott ist, noch deutlicher zum Durchbruch in unserer Gesellschaft zu verhelfen, damit Identität nicht weiterhin aus Abgrenzung, sondern aus der vorangehenden Bejahung durch Gott als Hingabe erfahren wird. Was heißt dies für uns als Amtsträger in der Kirche, geweiht oder nicht, was für uns als Pfarre und Gemeinschaft, für uns als Kirche in der Steiermark?

Familie
Ein weiterer Grundton, den ich höre, ist jener der Familie. Dieser ist freilich nicht neu – in ganzheitlicher Blick auf die Botschaft der Bibel macht auch – heilsam für die heutige Debatte – deutlich, dass im Zusammenleben der Menschen in Familien Gott Heil in unterschiedlichsten Konstellationen geschaffen hat, allein der Blick auf den Stammbaum Jesu sei dazu in Erinnerung gerufen. Gelingen, Brüchigkeit und Scheitern der Keimzelle von Gesellschaft und Kirche begleiten uns die Jahrhunderte herauf.[5] An der Schwelle zur kommenden Bischofssynode, die vor allem in unseren Breiten mit vielen Erwartungen zu einigen wenigen Fragestellungen verbunden ist, wird das gesamte Feld von Ehe und Familie neu vor uns aufgebreitet.

Ein Danke hier an jene, die sich in unserer Diözese über Jahrzehnte herauf mühen, Gelingen und auch Herausforderungen in diesem sensiblen Bereich menschlichen Daseins zu begleiten; und mitunter auch feststellen (müssen): „Vielfach werden wir mit der frohmachenden Botschaft, die uns anvertraut ist, nicht gehört.“ Daher erwachsen mir auch hier aus dem Hinhören einige Fragen: „Ist die Rede von ‚Ehe‘ und ‚Familie‘ für uns als Diener und Dienerinnen der Kirche Evangelium? Oder sind wir Menschen, die nur das Scheitern im Blick haben und sich in der Meinung förmlich mitreißen lassen, sodass zunächst mal scheinbar ‚alles den Bach hinuntergegangen‘ zu sein scheint?“ Diese Frage zu stellen bedeutet für mich nicht, all den Herausforderungen auszuweichen, die sich auf dem Gebiet des Miteinanders stellen; wer meine Familie kennt und meinen Dienst, den ich die Jahre herauf so gut es geht auszuüben versuchte, der weiß auch darum, dass diese Dauerthemen für mich waren. Und gerade deswegen: Lassen wir uns wirklich auf die Vielfalt ein, die uns in den Fragen des Miteinanders von Menschen begegnet, oder meinen wir, dass Regeln, egal ob lax oder rigoristisch, angewendet und verkündet, ausreichend für ein tragfähiges Lebensfundament sind? Nehmen wir als positive Herausforderung für unser Denken und unsere Seelsorge wahr, wie viele Menschen sich nach einer stabilen Beziehung in Familie und Werten wie Treue etc. sehnen? Was bieten wir all jenen an, die das Miteinander in Liebe wagen – trotz allem, was im Umfeld des eigenen Daseins auch danebengegangen sein mag? Wo – um es provokant zu formulieren – schätzen wir, dass jene, die etwa auch bewusst „ja“ sagen zu Kindern, eigentlich uns evangelisieren?

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[1] Paulus etwa redet von den Charismen als Gaben, die wir haben, damit sie anderen nützen, nicht um uns selber zu befriedigen. Christliche Existenz ist immer Pro-Existenz, Dasein für, so wie JHWH sich im Dornbusch offenbart: „Ich bin da für euch“ und wie es auch Jesus gelebt und durchlitten hat. Am deutlichsten wird diese „Grundhaltung“ christlichen Lebens wohl in Phil 2 mit dem Christushymnus besungen.

[2] Papst Franziskus, Evangelii gaudium 2: „Die große Gefahr der Welt von heute mit ihrem vielfältigen und erdrückenden Konsumangebot ist eine individualistische Traurigkeit, die aus einem bequemen, begehrlichen Herzen hervorgeht, aus der krankhaften Suche nach oberflächlichen Vergnügungen, aus einer abgeschotteten Geisteshaltung. Wenn das innere Leben sich in den eigenen Interessen verschließt, gibt es keinen Raum mehr für die anderen, finden die Armen keinen Einlass mehr, hört man nicht mehr die Stimme Gottes, genießt man nicht mehr die innige Freude über seine Liebe, regt sich nicht die Begeisterung, das Gute zu tun. Auch die Gläubigen laufen nachweislich und fortwährend diese Gefahr. Viele erliegen ihr und werden zu gereizten, unzufriedenen, empfindungslosen Menschen. Das ist nicht die Wahl eines würdigen und erfüllten Lebens, das ist nicht Gottes Wille für uns, das ist nicht das Leben im Geist, das aus dem Herzen des auferstandenen Christus hervorsprudelt.“

[3] Schon Anfang der 90iger Jahre fragte Klaus Hemmerle bei den St. Georgener Gesprächen (in: Leben aus der Einheit. Eine theologische Herausforderung, 20): „Gelingt heute noch so etwas wie Identität mit sich selbst? Schaue ich nicht in ein fremdes Gesicht, wenn ich in den Spiegel schaue? Leben von Menschen ist heute oft in so ungezählte Funktionen und Rollen zergliedert, daß ein verbindender roter Faden fehlt. Ich komme von einer Rolle in die andere, ich stürze von einer Erfahrung in die andere, und ich bin mir selber wie ein Silbenrätsel, das ich nicht mehr zu einem Wort zusammengesetzt bekomme. Was geschieht in einer Welt, in der wir uns nicht nur voneinander entfremden, sondern uns selbst fremd bleiben? Ich komme mir selbst nur auf die Spur, wenn ich nach der Einheit meines Lebens suche, wenn ich suche, die Einheit meines Lebens zu leben.“
Später (60-62) führt er ausführlicher aus:“Wir sind täglich so vielen Informationen ausgesetzt, in so viele unterschiedliche Welten hineinversetzt, von so vielen verschiedenen Ansprüchen in Beschlag genommen, daß wir, überwältigt von alledem, kaum mehr eine glaubwürdige und tragfähige Einheit des Ganzen in unserer Person, in unserem Leben vorfinden. Es gibt da zumindest drei Strategien, in denen wir spontan versuchen, mit dieser Ohnmacht fertig zu werden, die indessen alle nicht bis zur Einheit des Lebens und des Selbstseins durchdringen.

Die erste Strategie: Ich lasse nur noch selektive Wahrnehmung bei mir selber zu. Ich ignoriere vieles von dem, was mir begegnet, schotte mich ab gegen bestimmte Erfahrungen und Bereiche der Wirklichkeit und entwickle gleichzeitig Reaktionsmuster, die ich nicht mehr an der Begegnung mit der Sache oder der Person ausweise, sondern als unabänderliche Vorwegnahmen und Vor-Urteile in mein Leben einbringe. Im gar nicht so weit entfernt liegenden Extremfall führt das zur Entwicklung von Ideologien. Nicht mehr aus der Öffnung für die Sache, nicht mehr aus der nie abgeschlossenen Begegnung mit der Wirklichkeit, sondern aus „Not-wehr“ gegen das „Zuviel“ und „Zu-Kompliziert“ bestimme ich meine Weise, mit dem Nächsten, mit der Geschichte, mit der Welt, mit den Werten und Wirklichkeiten umzugehen. Ein Stück weit geht es nicht anders, wird der Einwand nicht weniger lauten. Aber die Resignation, daß es so sei, schläfert die Gegenkräfte gegen gefährliche Ideologiebildungen bedrohlich ein.

Die zweite Strategie möchte ich mit dem Wort „Reaktionsspaltung“ beschreiben: Ich lebe auf verschiedenen Bühnen und spiele auf ihnen nicht nur verschiedene Rollen, sondern lebe auf ihnen auch unterschiedliche Einstellungen und Grundentscheidungen. Ich bin im Gottesdienst der frömmste Mensch – aber in meinem politischen Verhalten entdeckt niemand etwas von meinem Glauben. Ich bin Protagonist der Familienpolitik – aber wehe, wenn jemand zuhause hinter die Kulissen schaut. Die Welt wird aufgespalten in verschiedene Lebenswelten, in ihnen entwickle ich verschiedene Verhaltensweisen, aber eine gegenseitige „Aussetzung“ meiner Einstellungen aneinander, ein Suchen nach einer umgreifenden Einheit unterbleiben.

Verwandt damit und im Ansatz doch verschieden davon ist eine dritte Strategie: Spaltung meiner Lebenszeit. Die Intensität der Erfahrungen, die Macht der Bedürfnisse und die Überforderung meiner Kräfte des Durchhaltens und Bestehens sind zu stark, um einen durchgehenden und durchtragenden Lebenssinn zu gewährleisten. Das Alles wird aufgelöst in den beliebigen Ausschnitt, die Zeit garantiert nicht mehr die gefügte Einheit des Ganzen, sondern erschöpft sich in der pragmatischen Bewältigung des Jeweils. Lebensformen, Lebensbeziehungen, Lebensentscheidungen wird der Anspruch und Sinn von Endgültigkeit nicht mehr zuerkannt. Die Einheit und Beständigkeit des Ich, des Charakters, der Biographie werden grundsätzlich in Frage gestellt. Genügt es nicht, im Jeweils innerlich plausible Erfahrungen zu machen, sich ihnen anzuvertrauen und sie gelassen wieder aufzugeben, wenn sich Neues und anderes zeigt? Erscheint nicht alles andere als Ideologie, als künstlicher Überbau? „Alles“ heißt immer wieder „etwas Neues“; so werden Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht in eine Konsequenz und Kohärenz hinein zusammengebunden, sondern sie flottieren im Wellenspiel der je neuen Kombinationen.

Dies alles ist nicht aufgeführt, um über die Gewissenlosigkeit, die Schlechtigkeit und Dekadenz unserer Zeit zu lamentieren. Tatsächliche Überforderungen und Ratlosigkeiten treiben in die genannten Richtungen, und es gilt durchaus, die Anfragen an klassische und überlieferte Seh- und Lebensweisen zuzulassen. Dennoch bleiben die Fragen: Wer bin ich? und: Was ist die Welt? Selbstverlust, Weltverlust, Verlust jener Solidarität, die Leben und Zukunft ermöglicht, können in der Tat nicht die Lösung sein.“

[4] Vgl. Franziskus, Evangelii gaudium, 78-80:“78. Heute kann man bei vielen in der Seelsorge Tätigen, einschließlich der gottgeweihten Personen, eine übertriebene Sorge um die persönlichen Räume der Selbständigkeit und der Entspannung feststellen, die dazu führt, die eigenen Aufgaben wie ein bloßes Anhängsel des Lebens zu erleben, als gehörten sie nicht zur eigenen Identität. Zugleich wird das geistliche Leben mit einigen religiösen Momenten verwechselt, die einen gewissen Trost spenden, aber nicht die Begegnung mit den anderen, den Einsatz in der Welt und die Leidenschaft für die Evangelisierung nähren. So kann man bei vielen in der Verkündigung Tätigen, obwohl sie beten, eine Betonung des Individualismus, eine Identitätskrise und einen Rückgang des Eifers feststellen. Das sind drei Übel, die sich gegenseitig fördern.

  1. Die Medienkultur und manche intellektuelle Kreise vermitteln gelegentlich ein ausgeprägtes Misstrauen gegenüber der Botschaft der Kirche und eine gewisse Ernüchterung. Daraufhin entwickeln viele in der Seelsorge Tätige, obwohl sie beten, eine Art Minderwertigkeitskomplex, der sie dazu führt, ihre christliche Identität und ihre Überzeugungen zu relativieren oder zu verbergen. Dann entsteht ein Teufelskreis, denn so sind sie nicht glücklich über das, was sie sind und was sie tun, identifizieren sich nicht mit dem Verkündigungsauftrag, und das schwächt ihren Einsatz. Schließlich ersticken sie die Missionsfreude in einer Art Besessenheit, so zu sein wie alle anderen und das zu haben, was alle anderen besitzen. Auf diese Weise wird die Aufgabe der Evangelisierung als Zwang empfunden, man widmet ihr wenig Mühe und eine sehr begrenzte Zeit.
  2. Es entwickelt sich bei den in der Seelsorge Tätigen jenseits des geistlichen Stils oder der gedanklichen Linie, die sie haben mögen, ein Relativismus, der noch gefährlicher ist als der, welcher die Lehre betrifft. Es hat etwas mit den tiefsten und aufrichtigsten Entscheidungen zu tun, die eine Lebensform bestimmen. Dieser praktische Relativismus besteht darin, so zu handeln, als gäbe es Gott nicht, so zu entscheiden, als gäbe es die Armen nicht, so zu träumen, als gäbe es die anderen nicht, so zu arbeiten, als gäbe es die nicht, die die Verkündigung noch nicht empfangen haben. Es ist erwähnenswert, dass sogar, wer dem Anschein nach solide doktrinelle und spirituelle Überzeugungen hat, häufig in einen Lebensstil fällt, der dazu führt, sich an wirtschaftliche Sicherheiten oder an Räume der Macht und des menschlichen Ruhms zu klammern, die man sich auf jede beliebige Weise verschafft, anstatt das Leben für die anderen in der Mission hinzugeben. Lassen wir uns die missionarische Begeisterung nicht nehmen!“

[5] Hemmerle, Klaus, ebd. 18f.: „Wir leben in einer Zeit, in der es kaum noch Institutionen gibt, die den Menschen und auch die Institution Ehe und Familie stützen und schützen können. Ehe und Familie hat nicht mehr ihren Ort – wie einst einmal – in größeren Lebenszusammenhängen, die in konzentrischen Kreisen das Familienleben entlasteten. Heute kommt oft die ganze Wucht personaler Beziehung auf zwei alleine zu, ohne daß wirklich Dritte oder Vierte da sind. Die Welt hat sich so verändert, daß darin die Lebensbedingungen für Ehe und Familie überaus schwierig sind. Aber wie problematisch ist es für eine Gesellschaft, wenn die kleinste Zelle menschlichen Zusammenlebens nicht eine neue Einheit findet.“

Zur Entwicklung von Kirche bei uns (1)

Viel wird zur „Kirchenentwicklung“ gesagt. Auch in unserer Diözese ist immer wieder davon die Rede. – In loser Folge will ich hier auf verschiedene Wortmeldungen von mir – ausschnittsweise – hinweisen, um mir und uns die Fragestellungen in Erinnerung zu rufen, um die es dabei – umfassend gedacht – geht.
Wir sind als Kirche in dieser Welt mit diesen Herausforderungen unterwegs …

Aus dem Referat auf den verschiedenen Herbstwochen 2015

Ich will „zu einem Dreischritt anregen, der hier [i.e.: Pfarrerwoche] nicht zur Gänze geleistet werden kann. „Zuhören – Austauschen – Vorschlagen“ nennt Matthias Sellmann, Pastoraltheologe in Bochum, seine 2012 erschienene Monographie, die mir einen ans Herz gewachsenen Satz des verstorbenen Bischofs von Aachen, Klaus Hemmerle, auszudeuten scheint: „Lass mich dich lernen, dein Denken und Sprechen, dein Fragen und Dasein, damit ich daran die Botschaft neu lernen kann, die ich dir zu überliefern habe.“ Der Dreischritt erinnert an den von Kardinal Cardijn geprägten von Sehen – Urteilen – Handeln, geht aber, auch angesichts der geänderten gesellschaftlichen und kirchlichen Rahmenbedingungen einen Schritt weiter und nimmt die heutige plurale Situation ernst, in der es alles andere als leicht ist, eine bestimmte Handlung als den richtigen Weg zu bestimmen. Darüber hinaus macht der von Sellmann eingeführte Dreischritt auch deutlich, dass in komplexer werdenden Situationen das Sehen wohl nicht immer so eindeutig ist, wie angenommen, weswegen ein intensives Zuhören Motivationen „dahinter“ aufdecken hilft, über die es sich auszutauschen gilt, um für den nächsten zu setzenden Schritt etwas vorzuschlagen. Heute und hier werden wohl nur die ersten beiden Schritte angegangen werden können, den dritten, etwas konkret vorzuschlagen, lade ich ein, dort zu setzen, wohin wir gesendet sind.

Was also nehme ich wahr? Was „höre“ ich derzeit in der Welt an Vorgängen? Und was „höre“ ich angesichts auch all dessen, was wir uns hin auf das Diözesanjubiläum vorgenommen haben? Einiges möchte ich in Übereinstimmung mit den Leitzielen des „Weg2018“ unserer Diözese benennen. Ich meine, dass in diesen Vorgängen Gott selbst zu uns spricht und mahnt, uns aufeinander einzulassen und seinem Willen für diese Situationen auf die Spur zu kommen, indem wir uns darüber austauschen und danach Wege zu deren Umsetzung andenken.

2.1. Welt und Schöpfung
Kurz nach meiner Weihe hat Papst Franziskus mit seiner Enzyklika „Laudato si“ einen flammenden Appell für das „gemeinsame Haus Welt“ an alle Menschen gerichtet. Wir sind als Menschen in diese unsere Welt hinein gestellt und daher auch gerufen, sie nach seinem Bild und Willen zu gestalten. Wir merken auch im Eigenen unserer Erfahrungen, wie notwendig das Wahrnehmen, ja das „Hören“ auf die vielen Stimmen in diesem unserem gemeinsamen Haus ist (oikos). Wir können uns nicht abschotten und bloß sezierend die eine oder andere Fragestellung analytisch behandeln: Es geht um die Welt und in ihr, um das Zueinander und Miteinander der Geschöpfe, zu denen auch wir als Menschen und Christen gehören. Vielfach macht Papst Franziskus deutlich: wenn uns die Freude des Evangeliums antreibt, dann gilt es die Menschheit im Blick zu haben und damit die Welt. Für mich äußerst interessant war bei der Lektüre der Enzyklika auch die Tatsache, dass sie nicht nur eine „Öko-Enzyklika“ ist, sondern durch die Zusammenschau der verschiedenen Ebenen deutlich macht, dass ökologische Fragen direkt mit sozialen und anthropologischen (Humanökologie) Fragen zusammenhängen. Diese genuine Weltsicht aus dem Evangelium heraus tut not; mehr noch: Welche Fragen kommen in uns hoch angesichts der dort zahlreich angerissenen Themenstellungen? Welche Fragen sind bei uns vordringlich und dem entsprechend in die Debatte unter uns und mit den Verantwortungsträgern vor Ort einzubringen?
„Vergelt’s Gott!“ all jenen in unserer Diözese, die sich in Pfarren, Gemeinschaften und auf der diözesanen Ebene mitunter auch lästig deutlich machen, was unsere Verantwortung für diese unsere Welt bedeutet. Zugleich ermuntere ich, die Zumutung unseres Papstes ernst zu nehmen und ins Bedenken für unser Kirche-Sein auf allen Ebenen deutlich mit hinein zu nehmen.

2.2. „eine“ – sich verändernde – Welt
In den letzten Monaten wird uns unter anderem durch das, was Papst Franziskus „3. Weltkrieg auf Raten“ nennt, von schmerzlicher Seite deutlich, dass wir uns nicht von dieser unserer Welt dispensieren können. […] Ich weiß um die Emotionen, die in unserer Gesellschaft diesbezüglich hochgehen, auch weil die nötigen Differenzierungen zwischen den Frage- und Problemstellungen „Asyl“ – „Zuwanderung“ – „Ermöglichung von Lebensmöglichkeiten vor Ort“ nur selten artikuliert werden. Auf alle Fälle aber danke ich allen, die sich hier engagieren – ob in Gesellschaft oder in unserer Kirche, weil es zunächst Menschen sind, die hilfesuchend anklopfen. Zugleich bitte ich mit aller Ernsthaftigkeit darum, sich all den damit in Zusammenhang stehenden Fragen des Miteinanders und des Aufeinander-Zugehens zu widmen. Immer wieder.
Gott hat seine eigene Sprache und mit ihr schafft er es immer wieder, unsere Planungen und wohldurchdachten Überlegungen gehörig durcheinander zu bringen. Dies kann auch durch Herausforderungen wie der Flüchtlingsproblematik der Fall sein. Gerade hier aber braucht es Antworten, die Leid und Elend hintanhalten können.
• Wo also laden wir als Verantwortungsträger der Kirche ein, die Herausforderungen der zusammenwachsenden Welt ins Gespräch einzubringen?
• Wo initiieren wir Überlegungen, sich diesen zu stellen?
[…]
• Wie versuchen wir, jeder und jede von uns, den Misstönen und Untergriffen Einhalt zu gebieten?
[…]  Es ist hier aber auch Meinungsbildung zu betreiben – es geht um Menschen! – mit den Verantwortlichen in den Gemeinden, mit unseren Engagierten, mit der Bevölkerung. Denk-, Sprach- und Meinungszäune sind niederzureißen. Wir sind als jene gefordert, für die jeder Mensch eine unteilbare Würde hat, wenn wir uns selbst und erst recht den zu uns Menschen „heruntergekommenen Gott“ ernst nehmen, und dieser ging hierfür bekanntlich bis zum Kreuz.
Ich glaube, dass wir uns den Herausforderungen, Kirche inmitten einer sich immer wieder ändernden Gesellschaft zu leben und zu erfahren wohl die nächsten Jahre, wenn nicht Jahrzehnte zu stellen haben. Das, was sich vor unseren Augen derzeit abspielt, ist eine Wegweisung, die es ernst zu nehmen gilt, um unsere Glaubwürdigkeit zu leben. Und das sei deutlich gemacht auch und gerade angesichts aller nur Angst benennenden und ihr entsprechend zu handelnden einladenden Appelle, die mitunter auch aus unseren eigenen Reihen kommen. Da werden wir zuweilen erneut von Menschen in anderen Verantwortungen „evangelisiert“, wenn ich etwa an eine der jüngsten Stellungnahmen der deutschen Bundeskanzlerin denke.
„Habt Mut!“ ruft der Prophet Jesaja (35,4), „Sagt es den Verzagten – hier ist euer Gott!“
Fürchten wir uns also nicht vor der Herausforderung, die uns zu überfordern scheint. Seien wir mutige Christen, gerufen vom Herrn, hier und jetzt das kommende Reich zeichenhaft in uns und um uns zu verwirklichen. Fürchten wir uns nicht, sondern legen wir Hand an. Legen wir den Finger in die Wunde. Christus ruft uns.“

Hoffnung – wider alle Hoffnung?

Es waren intensive und tief gehende Eindrücke, die ich in den vergangenen Tagen mit Mitarbeitenden von DKA, kfbÖ und Horizont3000 hier in Guatemala machen durfte. Manches habe ich ohnedies kurz in meinem blog der vergangenen Tage schon niedergeschrieben oder auch in meinen Veröffentlichungen auf facebook versucht zu beschreiben.

Hier möchte ich heute die Chance nutzen, manche Gedanken, die ich mir so in den letzten Tagen gemacht habe zu Fragestellungen, die wir in den Begegnungen hatten oder auch in der Zeit im Auto erörterten, was Kirche und Entwicklung von Guatemala anlangt, niederzuschreiben.

Zweifellos genießt die Kirche bei den Guatemalteken großes Ansehen, auch und gerade deswegen, weil sie – gerade in den Jahrzehnten der gewaltsamen Auseinandersetzungen ab den 60iger-Jahren des vergangenen Jahrhunderts bis zu den Friedensschlüssen Mitte der 90iger-Jahre viel mit dem Volk gelebt hat. Zweifellos könnte das auch – kurzsichtig – als eine Art „Wiedergutmachung“ für so manches erlittene Leid der indigenen Bevölkerung seit der Eroberung Zentralamerikas verstanden werden. So einfach kann man es sich aber nicht machen, auch wenn es verlockend wäre …

  • Mit dem Volk gehen ist also für die Kirche angesagt – und dieses Volk besteht zu einem Gutteil aus der indigenen Bevölkerung, die nach wie vor alles andere als wohlgelitten ist in der Gesellschaft, die eher am Rand – wenn überhaupt – wahrgenommen wird und daher auch von vielen „normalen“ gesellschaftlichen Fragestellungen eigentlich ausgeschlossen ist.
    Eh klar, wie es scheint – aber das „mit dem Volk gehen“ – wie heißt es zu Beginn des zweiten Teils unseres Zukunftsbilds? – ist alles andere als selbstverständlich, auch innerhalb der Bischofskonferenz scheint dies nicht „gegessen“ zu sein – jedenfalls bei manchen. Die Bischöfe, denen wir begegnet sind, war aber klar: es geht nicht anders. Und gerade deswegen gilt es Jugendpastoral – also den ganzen Menschen im Blick zu haben – anzupacken und nicht bloß ihn zu katechetisieren.
    Ist all dies aber nicht gerade angesichts der Erfahrungen der kriegerischen Auseinandersetzungen nach und nach erst im Volk aufzuarbeiten, ist nicht die Sprachlosigkeit über die Vorgänge mehrerer Jahrzehnte am Ende des vergangenen Jahrhunderts nach wie vor groß? Und: wurde das nicht immer und immer wieder von denen, denen wir hier begegnet sind, auf die eine oder andere Weise deutlich gemacht?
  • Für eine so verstandene Kirche ist es notwendig, Jünger für die Sendung in die Welt zu schulen. Auch: eh klar – und auch im ersten Teil unseres Zukunftsbildes deutlich.
    Aber – und das muss hier sofort ergänzt werden: unsere Gesprächspartner sehen hierin eine integrale Ausbildung und nicht nur Vermittlung bestimmter „Glaubens-Überzeugungen“, denn Jesus hat geheilt und gesund gemacht und nicht nur darüber gesprochen.
    Leider werden solche Ansätze bei uns oft gleich mal mit „Befreiungstheologie“ [bewusst?] (miss-)verstanden und damit auch auf die Seite gelegt. Aber: die Rechte der Menschen sind nicht „Nebensache“, sondern „der Mensch ist der Weg der Kirche“! Und: wer soll zur Stimme der Sprachlosen werden – immerhin sind 200.000 ums Leben gekommen, mitunter auf bestialische Art und Weise, und ca. 40.000 nach wie vor vermisst, viele davon sind aber durch die penibel geführten Akten der Militärs als „vermisst“ nach wie vor anzusehen … – wenn nicht die Kirche? Und: Gottseidank meldet sie sich in Gestalt der Bischofskonferenz immer wieder zu Wort, wie meine Begleiter zu sagen wussten.
  • Evangelikale
    Parra Nova, einer der Weihbischöfe von Guatemala Ciudad, sieht in den sogenannten „Rockefeller“-Papieren die Grundlage für den Aufstieg der großteils radikalen Evangelikalen (und das begann nicht erst unter Reagan), die die „Seelen der Menschen“ – um es in einem Bild zum Ausdruck zu bringen – mit „Wellblech“ nach dem großen Erdbeben im vergangenen Jahrhundert gekauft haben. Heutzutage – so der Weihbischof – hat er Hoffnung, weil eben die Katholische Kirche wirklich mit den Menschen unterwegs ist, dass sie den Zenit ihrer Ausbreitung erreicht hat. [Mit dieser Einschätzung steht er aber im krassen Gegenteil zu einer, die ich gestern in einer Zeitschrift gelesen habe: https://www.iz3w.org/zeitschrift/ausgaben/370_gefaengnisse/thannhaeuser] – ich bin gespannt darauf, wer wirklich richtig liegt … Andererseits: wenn sich Kirche wirklich auf der Seite des Volkes sieht – und nicht bloß in großen Tempeln das Heil verspricht – dann werden Menschen auch mit ihr gehen. Das bedeutet unter anderem eben aber auch, ganz bewusst bis an die Grenzen zu gehen [also auch in die entlegenen Gegenden und Dörfer] und sich nicht auf die Sakristeien in den Kirchen der Städte und damit die „bloße“ Glaubensbildung zurückzuziehen. Das bedeutet, Phil 2 lässt grüßen, zu dienen, Menschen auf zu helfen aus ihrer Sprachlosigkeit, aus ihrer Unterdrückung, aus ihrer Not … – und viele Einrichtungen sehen genau hier (!) ihren Platz.
    Außerdem: europäische Ökumene ist hier alles andere als verständlich und daher keineswegs auf der Tagesordnung …
  • Hoffnung in die Jugend
    Die Jugendlichen in den Pfarren „gehen zwar nicht mehr so viel in den traditionellen Prozessionen mit“, können aber – und das ist auch und für die Zukunft der Gesellschaft wichtig – einiges aus innerem (Glaubens-)Antrieb heraus in ihr verändern. – Auch wenn hier sehr viele Anstrengungen unternommen werden, das Ergebnis ist nicht zu „berechnen“: Selbstmorde und Migration sind auch unter jenen möglich, die gelernt haben „aufzustehen“, denen aber angesichts der – sich verschlechternden (!?) – allgemeinen Situation alle Hoffnungen geschwunden sind – und damit auch der Glaube.
  • Indigine und deren Werte
    Wo wir auch immer waren: die indigene Bevölkerung mit ihren vielen Sprachen und Kulturen sind nicht zu übersehen, auch wenn dies gesellschaftlich oft geschieht. Wiederholt wurden wir auf die Frage der Inkulturation in diesen Tagen angesprochen. Und die sind gerade in der heutigen Zeit, die vielfach „westlich“ durchsetzt ist alles andere als gesichert: die Maya-Kultur bzw. dem, was davon in die Neuzeit „gerettet“ werden konnte, ohne sie zu idealisieren, trägt viele Werte in sich. Wie können diese – verbunden mit dem Christentum in die Zukunft getragen werden?
    Interessant ist hierfür für mich, dass uns diese Frage verstärkt von jenen Bischöfen gestellt wurden, die mit den Indigenen wirklich lebten und die keine Einheimischen sind, denen also, die nicht in der „Kultur des Machismo und des Rassismus“ groß geworden sind …

Und in der Gesellschaft: was ist da wahrzunehmen?

  • Die Zeit der 3 1/2 Jahrzehnte kriegerischer Auseinandersetzung zwischen Militär und Indigenen
    Gewalt und „Versöhnung“ sind angesagt, wobei dieser Prozess ein langwieriger ist, der wirklich beschritten werden muss. Eine der auch heute noch nachwirkenden Folgen der damit einhergehenden Tristesse unter den Jugendlichen – verbunden mit vielen Fragestellungen wie etwa Arbeitsmöglichkeiten – ist freilich die Frage der Migration in den „reichen Norden“ …
  • Spaltung der Gesellschaft – Gerechtigkeit
    Eine relativ kleine Schicht der Bevölkerung besitzt beinahe alles, der weitaus größere Teil muss sich mit weniger als 2 Dollar/Tag zufrieden geben. Wie kann das Nebeneinander in der Bevölkerung wirklich in ein Miteinander umgemodelt werden?
    Daher:
  • Arbeit und Bildung
    können zweifellos als Lösungsansätze angesehen werden, wobei freilich zu betonen ist, dass es auch Unternehmer bräuchte, die hier in das Land investieren und sich nicht nur das Ihre herausholen wollen – auf dem lateinamerikanischen Hintergrund hört sich eben Franziskus mit „diese Wirtschaft tötet“ anders an …
    Allerdings: die Bildung scheint nicht viele zu interessieren – die dropout-Rate ist während der „Pflichtschulzeit“ von 6 Jahren sehr hoch – und eigentlich ist auch nicht zu sagen, wieviele Kinder wirklich für die Schule eingeschrieben werden – die Bevölkerung wächst ja sehr rasch (manche rechnen nach einer Volkszählung, die gerade durchgeführt wurde – nach Jahren wieder einmal – mit mittlerweile bis zu 20 Millionen Einwohnern!). Wer nicht gebildet ist, tut sich aber weit schwerer mit zu entscheiden und sich einzubringen in das Voranbringen der Gesellschaft. Diese Erkenntnis gilt weltweit und ist bekannt, auch hier. Aber: wenn es nicht wahrgenommen und dem entsprechend umgesetzt wird?
  • Medizinische Situation
    Auch auf diesem Sektor gilt es – wie bei der Bildung – zwischen der öffentlichen Situation, die zum Himmel schreit, und der privaten zu unterscheiden, die wiederum von Verantwortungsträgern nicht wahrgenommen wird. Daher: wenn diese mit der wirklichen Realität nicht mehr in Kontakt kommen, sondern sich „alles leisten“ können – im mehrfachen Sinn des Wortes: wen wunderts, dass nichts weitergeht? Die derzeitigen Ärztestreiks drehen sich ja nicht nur um Gehälter (knapp über dem Mindestlohn), sondern schlicht und ergreifend auch um nötigen Einrichtung und Ausrüstung zumindest für die großen Spitäler. Wenn allerdings jene, die es sich leisten können, teure Privatspitäler vorziehen oder überhaupt sich nach Amerika begeben ….?!
  • politische Situation
    In vielen Debatten in diesen Tagen wurde das Thema Rechtsstaat von uns wahrgenommen: viele, viele Appellationen gibt es – zumal in den letzten Monaten – an den Verfassungsgerichtshof, der in diesen Monaten ein großes standing gegenüber den Machthabern etc. aufweist, auch weil Korruption unter den Abgeordneten und in der Regierung an der Tagesordnung steht …

Was in solchen Situationen Menschen hier hält: unsere Mitarbeiter von Horizont3000 etwa oder auch den Menschenrechtsprokurator: das Land hat – trotz oder gerade ob seiner Vulkane und Landschaft – einen großen Reiz. Die Menschen „verdienen“ es, weil es eben unsere Brüder und Schwestern im einen Leib der Kirche sind, dass sie nicht links liegen gelassen werden. Und es ist einfach notwendig, dass wir als Kirche rund um den Erdball wirklich ernst machen mit der Rede vom „einen Leib“: Leiden wir wirklich mit? Und daher auch: leben wir wirklich mit? – Jene, die ihre „neue Heimat“ hier gefunden haben – aus welchen Gründen auch immer – leben es vor: Ja es „zahlt“ sich aus für andere und mit anderen in ihrer Situation zu leben. Und wenn ich an die indigene Dorfbevölkerung denke, denen ich in dieser Woche auf mehr als 2.000 m Seehöhe begegnen durfte: das ist eben auch (!) Leben, anders als ich es mir vorstelle und anders wohl auch als ich es mir in den kühnsten Träumen zu leben erwarte, aber: Sie tragen Leben weiter. Und: sie geben Hoffnung, Vertrauen. – Habe ich es auch?

Berührt werden, weil wir Brüder und Schwestern sind

Der Vormittag des gestrigen Besuchstages in Guatemala galt der FTN (Fundación Tierre Nuestra), die mit dem damaligen Bischof von San Marcos im Westen des Landes, Mons. Alvaro Ramazzini, Sohn italienischer Einwanderer, begonnen hat. Mittlerweile ist diese Initiative eine eigene Stiftung, deren Vorsitzender Ramazzini nunmehr als Bischof von Huehuetenango ist.

Vor allem Jugendliche haben uns ihre Dankbarkeit den Initiativen der Stiftung gegenüber zum Ausdruck gebracht: unter anderem werden „politische Bildung“ und andere Bildungsmaßnahmen von Welthaus Graz und der Dreikönigsaktion sowie Misereor gefördert sowie Initiativen junger Menschen zum Aufbau kleiner Produktionsstätten [Brot, Shampoo, Natur- und Fruchtjoghurt, Herstellung von Stoffen und Taschen usw.], die so gut es geht auch unter Nachhaltigkeitsaspekten betrieben werden. Berührend waren die Schilderungen auch der Erwachsenen zu Workshops zum Thema „neue Männlichkeit“ angesichts des hier weit verbreiteten „machismo“ und auch jene, die davon sprachen, was diese Arbeit für ihre Entwicklung und damit ihre Entscheidung hier zu bleiben bedeutet. In pantomimischen Sketches wurden 2 besondere Herausforderungen dargestellt, die in der Arbeit mit den Jugendlichen dreier Diözesen (Quiché, Quetzaltenango, San Marcos) besondere Beachtung finden: die Fragen rund um Migration – Guatemala ist ein sehr „junges“ Land bietet aber vielen zu wenig Perspektive und so machen sich vor allem junge Männer auf den gefährlichen Weg nach Norden, des öfteren mit Schleppern etc. – sowie die der Hoffnungslosigkeit und der damit verbundenen Abstempelungen in der Gesellschaft. Bildung soll weiterhelfen – und auch Eltern schilderten, wie sie ihre Kinder dabei unterstützen, auch wenn es manchmal weite Wege zurückzulegen gilt. Dass bei allen Maßnahmen – wie der Name der Stiftung schon sagt wird ein weiterer Fokus der Arbeit auch auf Landrechte sowie Ernährungssicherheit gelegt – darauf geachtet wird, die eigene Tradition nicht zu vergessen – die 3 Diözesen bzw. Departements sind vielfach von Indigenen bewohnt – sei nur nebenbei erwähnt. Ein Gutteil des gemeinsam verbrachten Vormittags wurde der Vorstellung der jüngsten Idee einer hier gebräuchlichen „politica publica“ gewidmet: die Jugendlichen haben für sich wichtige und bedeutsame Punkte erarbeitet, die im öffentlichen Leben Berücksichtigung finden sollen: die lokalen und regionalen Verantwortungsträger werden mit dem jüngst erschienen Text bekanntgemacht und daran erinnert, dass Jugendliche mitgestalten wollen an einer gerechteren Welt vor Ort. Bewegt erzählte uns ein Vater abschließend davon, dass trotz all dieser Bemühungen nunmehr einer seiner Söhne sich auch auf den Weg nach Norden gemacht habe … – noch lebe er, meinte er.

Monsignore Ramazzini konnten wir danach bei einem Mittagessen begegnen: unter anderem schilderte er uns Schwerpunkte die sich die mittelamerikanische und damit auch guatemaltekische Bischofskonferenz gegeben haben: zur Sendung in die Welt („Mission“) sind Jünger nötig, Fragen der Migration und die dem vorausgehende Erfahrung von Hoffnungslosigkeit an Lebensmöglichkeiten (Arbeitslosigkeit, die sich auch u.a. in teilweise hohen Selbstmordraten ausdrücken …) sowie Problemstellungen in allen möglichen Facetten von „Gerechtigkeit“ … Miteinander sind wir unterwegs – als ein Leib, der die Kirche ist: wir können nicht an der Situation unserer Brüder und Schwestern einfach achzelzuckend vorübergehen …