Alle Beiträge von Wilhelm Krautwaschl

Der Mensch

Papst Franziskus hat gestern vor dem Europäischen Parlament und dem Europarat gesprochen. „Der Mensch“ stand im Mittelpunkt seiner Überlegungen – und damit etwa

  • Einheit in Vielheit: „Einheit bedeutet nicht politische, wirtschaftliche, kulturelle oder gedankliche Uniformität. In Wirklichkeit lebt jede authentische Einheit vom Reichtum der Verschiedenheiten, die sie bilden: wie eine Familie, die umso einiger ist, je mehr jedes ihrer Mitglieder ohne Furcht bis zum Grund es selbst sein kann.“
  • der Mensch als jemand, der über sich selbst hinausweist: „Ein Europa, das nicht mehr fähig ist, sich der transzendenten Dimension des Lebens zu öffnen, ist ein Europa, das in Gefahr gerät, allmählich seine Seele zu verlieren und auch jenen „humanistischen Geist“, den es doch liebt und verteidigt.“
  • der Mensch in seiner transzendentalen Würde: „Von der transzendenten Würde des Menschen zu sprechen, bedeutet also, sich auf seine Natur zu berufen, auf seine angeborene Fähigkeit, Gut und Böse zu unterscheiden, auf jenen ‚Kompass‘, der in unsere Herzen eingeschrieben ist und den Gott dem geschaffenen Universum eingeprägt hat“.
  • der Mensch nicht nur als Individuum, sondern als Gemeinschaftswesen: „Es gibt [..] heute die Tendenz zu einer immer weiter reichenden Beanspruchung der individuellen – ich bin versucht zu sagen: individualistischen – Rechte, hinter der sich ein aus jedem sozialen und anthropologischen Zusammenhang herausgelöstes Bild des Menschen verbirgt, der gleichsam als „Monade“ (μονάς) zunehmend unsensibel wird für die anderen ‚Monaden‘ in seiner Umgebung. „

Beide Ansprachen: mehr als bloß lesenswert! Denn: sie geben wirklich Hoffnung für einen oft müde wirkenden Kontinent.

Es sich nicht zu leicht machen

Wir sind es schon gewohnt: Bischof Stefan Oster aus Passau nutzt auch die neuen Medien, um Gedanken, die ihn umtreiben, zur Verfügung zu stellen. Auch wenn diese nicht unbedingt geeignet scheinen für eine Welt, in der das Kurze, der Augenblick, der unmittelbare Eindruck zählt: Stefan Oster scheut sich nicht komplexe Sachverhalte seinen knapp 7.000 facebook-Freunden zuzumuten. Vor einigen Tagen war es wieder soweit: im Anschluss an seine Gedanken rund um die Bischofssynode und seinen „virtuellen Austausch“ mit dem Bischof von Antwerpen hat er wieder mal was „schwer Verdauliches“ in diesem Zusammenhang geschrieben. Weil es auch mich nach-denklich gemacht hat, möchte ich diese Seiten, die über den Beitrag unten downloadbar sind, gern weitergeben

Re-Formatierung

Wer meinen blog liest, der eigentlich dazu dient, „andere“ zu Wort kommen zu lassen, wird schon darum wissen: ich verweise oft auf Christian Hennecke und seine Gedanken, die er zur „Kirchenreform“ einbringt. In seinem blog-Beitrag vom 17. November antwortet er mit seiner kritischen und dennoch sehr wertschätzenden Art auf einen Artikel in der Zeitschrift „Christ in der Gegenwart“, der hier online zugänglich ist. Ja: es geht primär und zuallererst um die Re-Formatierung von Kirche und damit denen, die sich als ecclesia, Herausgerufene, verstehen, nicht um Strukturen und Möglichkeiten Geld einzusparen und damit auch nicht darum, die Kirche nicht mehr vor Ort zu (er)leben. (Welches Verständnis von Kirche steckt denn da eigentlich dahinter?).

Salz der Erde

Über den blog von Christian Hennecke  bin ich auf den Film von Wim Wenders „Das Salz der Erde“ aufmerksam gemacht worden. Ich habe es nicht bereut, diesen Film über einen bekannten Fotografen anzuschauen. Gewaltige Bilder, die das – und der Titel ist bewusst gewählt – in der Sprache dieser Kunst deutlich machen wollen, was der Mensch ist für die Welt. Das, was Hennecke in seinem blog schrieb: „noch nie habe ich gehört: der Mensch, wie er sich zeigt, anbietet und wie er lebt – er ist dieses Salz. Er macht die Erde zu dem, was sie von ihrer innersten Wirklichkeit her ist“ ist berührend dargestellt in den Bildern, die Sebastião Salgado die Jahrzehnte herauf gesehen und abgelichtet hat und die von seinem Sohn Juliano und Wim Wenders in Szene gesetzt wurden.

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Wie sehr doch die Welt vom Menschen „versalzen“ werden kann und wird. Und: wie sehr der Mensch dieser Welt Salz sein kann. Beides hat Salgado hautnah erfahren. Beides lehrt er sehen … null
Und damit werden Größe und Abgründe des Menschen deutlich – beides erlebt wohl jede und jeder von uns auch an seiner/ihrer eigenen Haut. Wie mit alledem umgehen?null

Im Licht des Evangeliums

Die Zeichen der Zeit sind im Licht des Evangeliums zu deuten. Mit anderen Worten: Gott wirkt schon, ehe wir als Kirche zu den Menschen kommen. Papst Franziskus hat die Teilnehmer des Kongresses zu „Evangelii gaudium“ Mitte September aufgefordert, dem entsprechend in der Pastoral zu leben: „Alle, die in den verschiedenen Bereichen der Pastoral tätig sind, sind aufgerufen, die Zeichen der Zeit zu erkennen und zu deuten, um eine weise und großherzige Antwort zu geben. Angesichts so vieler pastoraler Anforderungen, angesichts so vieler Bitten von Seiten der Männer und Frauen laufen wir Gefahr, zurückzuschrecken und uns in uns selbst zu verschließen, in einer ängstlichen Verteidigungshaltung. Und von dort aus entsteht die Versuchung der Selbstgenügsamkeit und des Klerikalismus, der Kodifizierung des Glaubens in Regeln und Vorschriften, wie die Schriftgelehrten, die Pharisäer und die Gesetzeslehrer zur Zeit Jesu es taten. Dann ist alles klar geregelt und geordnet, aber das gläubige und suchende Volk wird weiterhin hungern und dürsten nach Gott.“ Hier ist (endlich!) seine Ansprache auch auf deutsch zu lesen.

Wider die Haarspaltereien

Wieder einmal habe ich mir – diesmal in der offiziellen deutschen vatikanischen Übersetzung die Worte von Papst Franziskus an die Generalversammlung der Fokolare von Ende September durchgelesen:  „Es tut weh zu sehen, wie die Christen angesichts einer Kirche, einer Menschheit mit so vielen Wunden – moralischen Wunden, existenziellen Wunden, vom Krieg verursachten Wunden, von denen wir jeden Tag hören – beginnen, sich in philosophischen, theologischen, geistlichen Spitzfindigkeiten zu verlieren“ sagt er unter anderem. Wie wahr!

Aus der Quelle trinken

Ein bekanntes Sprichwort sagt: „Spucke nicht in die Quelle, aus der du trinkst!“ Mir ist dieser Ausspruch angesichts des „Wortes des Lebens“ eingefallen, das viele rund um die Erde in diesem Monat leben bzw. leben wollen. Im Kommentar zum Wort „Bei dir ist die Quelle des Lebens“ aus dem Buch der Psalmen (Ps 36,10), der von Chiara Lubich, der Gründerin der Fokolar-Bewegung stammt, wird auf verschiedene Möglichkeiten hingewiesen, wie Gott als „Quell des Lebens“ ernst genommen werden kann.
Bei der ersten Lektüre zu Beginn dieser Woche in einer Runde junger Leute hier bei mir im Haus bin ich vor allem bei der Möglichkeit hängen geblieben, in den Menschen, die mir tagaus, tagein begegnen, Gott wahrzunehmen. Wir alle sind ja „sein Ebenbild“ – so jedenfalls steht es auf der 1. Seite unserer Bibel -. Also: wir sind unendlich wertvoll. Wenn wir dann auch noch „Vater unser“ gemeinsam beten, sagen wir doch damit: Jede, die und jeder, der mitbetet, ist mir Bruder und Schwester – wie sonst könnten wir alle Gott „unseren Vater“ nennen? Also: in jeder und jedem kann ich die Handschrift Gottes wahrnehmen! Ein toller Gedanke – und zugleich ein wahnsinnig herausfordernder. Also: auf und ihn gelebt!

Nomaden im Leben – Nomaden im Tod

Nach- und sehr bedenkenswert halte ich den Leitartikel von Chefredakteur Hubert Patterer in der „Kleinen Zeitung“ vom 1. November 2014 (S. 10), der anknüpft an ein „Requiemgedicht“ von Marie Luise Kaschnitz auf der Titelseite dieser Ausgabe und den ich hier  Auszügen dokumentiere:

Dein Schweigen
Meine Stimme
Dein Ruhen
Mein Gehen
Dein Allesvorüber
Mein Immernochda.

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„Wir haben der heutigen Ausgabe ein Gedicht von Marie Luise Kaschnitz vorangestellt. Es ist der Auszug eines lyrischen Requiems, zugedacht ihrem verstorbenen Mann. Über die getrennten Räume hinweg spricht die Trauernde den Verlorenen an. Die beiden bleiben im Gespräch, der Tod hat die Liebe nicht zum Verstummen gebracht. Im Eingedenken lebt der Verblichene, das Du, fort.

Tot ist, wer nicht erinnert wird. Erst dann erlischt die Identität: der zweite Tod. Neuerdings wird auf den Friedhöfen vermehrt doppelt gestorben. Bei einem Begräbnisbesuch in der Stadt stachen billagelbe Aufkleber auf Grabsteinen ins Auge: „Grabrecht verfallen“. Offenkundig ist niemand mehr da oder bereit, die Ruhestätte für ein Gebet oder Gespräch aufzusuchen, zu pflegen und zu zahlen. „Genug gezahlt“ stand trotzig auf einem Überkleber. […] Der Tod, eine lästige Last.

Das Wie-wir-Leben korreliert mit dem Wie-wir-gehen-Wollen. Der Tod als Angebot. Im Radio pries gestern eine Bestattungsfirma die Naturbeisetzung an, die in den Wind gestreute Asche. Das Ich, romantisch und ökologisch korrekt entsorgt in der Ortlosigkeit. Das liege im Trend. Zur Auswahl steht eine Salzburger Alm oder ein Stück Grün im 15. Wiener Bezirk, gleich neben einem Baum. Den könne man, wer wolle, als Trauernder umarmen. Und das große Asset: „Keine Nachfolgekosten“.

Das ist der effiziente, optimierte Tod der Effizienz-und Optimierungsgesellschaft. Sie ist befreit von jedweder Erinnerungs-, Besuchs-, Empathie- und Bezahlpflicht. Der Mensch besorgt zu Lebzeiten als Dienstleistung an die autonome Ich-Generation seine vollkommene restlose Entsorgung.

Es gibt nichts zu beklagen. Der individualistische Tod, der kein Du, kein Immer-noch-Da erwartet, ist das schlüssige Ende dessen, was ist. Die alten Zugehörigkeiten lösen sich auf, die Großfamilien wie die Kleinfamilien, Splitter fügen sich neu oder bleiben Splitter, eine brüchige, parzellierte Gesellschaft, die auf Verpflichtungsfreiheit pocht: So nennt sie der Soziologe Manfred Prisching. Nicht Ebola, der Narzissmus sei die Epidemie der Stunde. Zwar gebe es virtuelle Communitys, aber „Fußballfreunde helfen nicht bei der Pflege der Großmutter, genau-so wenig wie die 1.000 Facebook-Freunde“. Alles zerfließt. Was bleibt, ist die vernetzte Vereinzelungsmasse. Die Asche im Wind ist ihr Abbild.“

Hubert Patterer kann hier erreicht werden.